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Prophetengift: Roman

Prophetengift: Roman

Titel: Prophetengift: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Nolan
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links und trabte über die Straße, um den atemberaubenden Meerblick zu genießen.
    Auf den steilen Hängen unterhalb der Straße wuchsen knorrige Kiefern, die an riesige Brokkolistängel erinnerten; darunter spritzte der Ozean ans Ufer wie eine gewaltige, zu schnell getragene Schüssel mit Wasser. Smaragdgrüne Brecher krachten auf zerklüftete Felsen und Gischt sprühte an den dunklen Klippen empor. Die Landschaft war wild, windumtost und von einer wildromantischen Schönheit – und dennoch friedlich. Sebastian begann sich zu entspannen – bis seine Sorgen wiederkamen und ihm auf die Schulter klopften.
    Da fielen ihm Libbys Worte ein: »Man errichtet eine Mauer im Kopf – eine undurchdringliche Barriere zwischen dem Bewusstsein und dem, was man am meisten fürchtet ... wenn du versuchst, deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, etwas Schönes, dann sollte es gehen.«
    Er entdeckte einen großen Felsblock, der eine schöne Sitzgelegenheit abgeben würde, schlenderte hinüber und setzte sich. Dann drehte er den Deckel der Wasserflasche, zog einen Muffin aus der Plastiktüte und biss in das lockere Gebäck. Der süß-säuerliche Geschmack der Cranberries erblühte in seinem Mund.
    Wenn doch nur jeder Tag so sein könnte.
    Und dann erkannte er, dass jeder Tag so sein konnte.
    Seine Anwesenheit an diesem Ort ließ ihn erkennen, dass sein Leben und diese Autofahrt ein und dasselbe waren: Hinter ihm lagen die Jahre, die er bereits gelebt hatte, vergleichbar mit der Strecke, die er gerade auf der Straße zurückgelegt hatte, und vor ihm lagen noch Meilen von Asphalt und Jahrzehnte Lebenszeit – aber der kleinste Irrtum konnte dazu führen, dass er ins Vergessen stürzte.
    Aber vor welchem Vergessen hatte er am meisten Angst? Dem Tod? Einsamkeit? Versagen? Armut?
    Es gab so vieles in seinem Leben, das ihm Freude bereitete, und einiges, das er wirklich sehr hoch schätzte. Also warum sollte er alles wegwerfen und noch einmal von vorn anfangen?
    Es war nicht nur wegen Luke – das war ihm klar. Und auch nicht nur wegen der militanten Christen.
    Es war wegen Kitty und ihrer unersättlichen Natur.
    »Dieses Penthouse ist nicht groß genug«, hatte sie eines Nachmittags verkündet. »Aber drei Häuser weiter steht eins zum Verkauf, das eine Bibliothek und einen eigenen Fahrstuhl hat. Das würde dir doch auch gefallen, oder?« Oder: »Ich kann kaum glauben, dass wir immer noch nichts von Larry King gehört haben. Bald geht er in den Ruhestand, und wenn wir jetzt nicht in seine Sendung kommen, kommen wir nie rein.« Und schließlich: »Unsere Anlagen entwickeln sich längst nicht so gut, wie ich erwartet hatte. Diese verdammte Wirtschaftslage! Wir werden doppelt so viele Shows im Monat machen müssen, wenn wir die finanziellen Ziele erreichen wollen, die ich Anfang des Jahres für uns festgesetzt habe.« Und die ganze Zeit über war er ein williger Komplize gewesen, weil er Kitty gefallen wollte und weil er wollte, dass sie glücklich war.
    Aber nach der Sache mit Luke hatte sich etwas in ihm verändert. Etwas war gerissen.
    Plötzlich fühlte Sebastian sich an ein Erlebnis mit seinem Schulfreund David erinnert. Sie hatten abwechselnd mit Davids Luftgewehr in Davids Garten geübt.
    »Alle getroffen!«, hatte sein Freund ausgerufen, als die kleine Pyramide aus 7UP-Dosen ins Gras purzelte. »Hier. Versuch mal, ob du den Telefonmast da treffen kannst.« Er reichte Sebastian das Gewehr.
    Er hielt sich die Waffe vors Gesicht, kniff ein Auge zu, schaute durch den Sucher und zog den Abzug. Beide hörten sie, wie die Kugel im Holz einschlug. »Ha! Ich habs geschafft!«
    »Das war zu einfach«, forderte David ihn heraus. »Ich wette, den Vogel da oben triffst du nicht.«
    Sebastian schaute auf und entdeckte die schneeweiße Taube, die friedlich auf der Telefonleitung saß, aber er wollte ihr nicht
wehtun. Er hob erneut das Gewehr ans Gesicht, zielte aber absichtlich etwas daneben.
    Er feuerte und verfehlte das Ziel.
    »Ich wusste, dass du nicht treffen würdest«, lachte David. »Hier. Lass mich mal.« Er griff nach dem Gewehr.
    Anstatt ihm die Waffe zu geben, hob Sebastian sie erneut, zielte und feuerte.
    Der dumpfe Einschlag der Kugel im Körper der Taube war grässlich.
    Schockiert über die Folgen ihrer Taten sahen beide Jungen schweigend zu, wie der Vogel planlos hinter den Zaun in den Nachbargarten flatterte. Dann rannte Sebastian zum Zaun, den Kopf voller Fragen. Hatte der Vogel gelitten? War er tot? Hatte eine

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