Prophetengift: Roman
»Warum nicht mit dem Sohn?«
»Wie meinst du das?«
»Finde heraus, wo er steckt, und dann geh hin und rede mit ihm. Oder, noch besser, finde seine E-Mail-Adresse heraus und mach ein Treffen aus. Auf diese Weise kommst du nicht rüber wie irgendein durchgeknallter Stalker, der versucht, seine alte Freundin zurückzukriegen.«
Chuck sah Hank blinzelnd an. »Ja, das könnte klappen. Ich meine, einen Versuch wärs wert, oder?« Er schüttelte die beiden letzten Zigaretten aus der Schachtel, bot Hank eine an und steckte sich die andere zwischen die Lippen.
Hank hieb ihm auf die Schulter und ließ mit der anderen Hand sein Plastikfeuerzeug aufflammen. »Mehr kannst du nicht tun.«
Nach dem Essen wartete Chuck, bis er an der Reihe war und eine halbe Stunde an den Computer durfte. Als er dran war, scannte er erst das alte Foto von sich ein, und dann ließ er seine langsamen Finger über die Tastatur wandern und durchkämmte die Evo-Love-Website nach einer Möglichkeit, wie er direkt mit Sebastian in Kontakt treten konnte.
Als ihm nur noch ein paar Minuten von seiner Computerzeit blieben, entdeckte er ein Prompt mit den Worten: »Gib Sebastian Black dein Feedback! Sag ihm, was in unserer Welt verändert werden sollte!«
Chuck klickte die Eingabeaufforderung an und begann sorgfältig in dem dafür vorgesehenen Feld einen Brief zu entwerfen:
Lieber Sebastian Black,
ich kann mir vorstellen, dass Sie wegen Ihrer Arbeit ständig merkwürdige Briefe von irgendwelchen Spinnern bekommen, und wahrscheinlich beantworten Sie die nicht. Ich hoffe, Sie werden darüber nachdenken, ob Sie meinen Brief beantworten wollen, auch wenn es vielleicht der merkwürdigste Brief ist, den Sie je bekommen haben. Aber jedenfalls: Ich halte es für sehr gut möglich, dass ich Ihr Vater bin. Ich habe Ihre Mutter vor fast zwanzig Jahren auf einer Party kennengelernt und wir haben die Nacht zusammen verbracht. Wir waren beide ziemlich blau, also habe ich nicht mehr allzu viele Erinnerungen an den Abend, aber das
da etwas zwischen Ihrer Mutter und mir gelaufen ist, weiß ich mit Sicherheit. Davon abgesehen glaube ich, dass ich Ihr Vater bin, weil Sie so aussehen wie ich, oder vielmehr, wie ich damals ausgesehen habe, bevor mir die Haare ausgefallen sind (sie waren blond, wie Ihre). Außerdem sind Sie groß und ich ebenfalls, und ich bin immer noch ziemlich hager, genau wie Sie.
Jedenfalls, ich weiß, es klingt verrückt, aber ich würde Sie trotzdem gern treffen und mit Ihnen reden. Ich füge ein Foto von mir bei. Vielleicht erkennen Sie ja die Ähnlichkeit, obwohl ich für mein Alter (40) alt aussehe. Ich sollte vielleicht noch sagen, dass ich so alt aussehe, weil ich ein Problem mit Kokain und danach mit Meth hatte – und mit allem anderen, was ich die Nase hochziehen konnte, ohne zu niesen. Aber jetzt bin ich clean, und zwar seit sechzehneinhalb Monaten, und lebe mit einigen anderen Typen zusammen in einer betreuten Wohngruppe. Mir ist klar, dass ich nicht die Art Mann bin, die Sie sich als Vater wünschen würden, und das verstehe ich, aber wenn Sie mein Sohn sind, sollten wir uns doch zumindest einmal treffen, oder?
Ich habe gestern Nacht Ihrer Mutter geschrieben, und sie meint, sie kennt mich nicht und erinnert sich nicht an mich, aber wie ich schon sagte, sie war in dieser Nacht ziemlich blau, woraus ich ihr keinen Vorwurf mache, weil wir Tequila und anderes Zeug gebechert haben, was so ungefähr alles ist, an das ich mich erinnere. Jedenfalls, wie schon gesagt, ich finde, wir sollten uns zumindest ein einziges Mal treffen, wenn das okay für Sie ist. Sie können mir eine Mail an diese Adresse schicken.
Herzlichst
Chuck Niesen
Chuck musste LeBron, der mit dem Computer an der Reihe war, eine ungeöffnete Packung Zigaretten zum Tausch anbieten, um seine Mail dreimal, viermal, dann fünfmal durchlesen zu können, bevor er sie zusammen mit dem Foto abschickte. Aber das Opfer war es wert, fand er – er hatte nie auch nur davon zu träumen gewagt, dass er ein Kind haben könnte, und ihm schwindelte bei dem Gedanken, dieser junge, gut aussehende, reiche Promi könne sein Sohn sein.
Kurz darauf klappte Kitty am anderen Ende der Stadt ihren Laptop auf, weil sie hoffte, Sebastian sei vielleicht wieder zu Verstand gekommen und befinde sich auf dem Weg nach Hause.
Sie suchte in ihrem Posteingang nach einer Mail von ihrem Sohn und brach fast in Tränen aus, als sie feststellen musste, dass keine da war. Also überprüfte sie erneut
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