Prophetengift: Roman
Plastikbäumen, wie man sie auf einer Modelleisenbahnplatte findet, nur dass hier die Gebäude auf einen Yachthafen mit Miniaturbooten hinabblickten. Unmittelbar hinter der kleinen Stadt am Hang, weit links von ihnen, ragten die tomatenroten Pfeiler der Golden Gate Bridge in einem Moment majestätisch über einer mit Eichen bestandene Hügelkuppe auf und verschwanden im nächsten in einer Nebelbank.
Sebastian schob die Hebel nach vorn und steuerte das Boot geschickt in eine leichte Kurve. Augenblicke später befanden sie sich im prallen Sonnenschein und fuhren hinaus in die San Francisco Bay. »Weißt du, das ist das erste Mal seit geraumer Zeit, dass ich mich völlig sicher fühle.«
»Was soll das heißen? Oh, pass auf die vielen Kajaks dort auf.« Sie zeigte hin.
Sebastian entdeckte die Flottille der zierlichen, gelben Boote - wie riesige Sonnenblumenblüten trieben sie auf den Wellen - und riss das Lenkrad nach rechts. Dann blickte er ruhig über den Bug hinaus und beobachtete, wie das Wasser am Boot vorbeiströmte. »Ich fühle mich sicher, weil mich hier draußen niemand kriegen kann und weil Kitty nicht hier ist, um mich anzuschreien.«
»Ist es wirklich so schlimm, ununterbrochen?«
»In letzter Zeit kommt es mir so vor.«
»Weißt du«, begann Reed, »du bist wirklich zu jung, um dich von deinem Job derart stressen zu lassen; in deinem Alter solltest du in einem trendigen Shop arbeiten.« Sie hielt kurz inne. »Aber wenn alles so furchtbar ist, warum lässt du es dann nicht einfach hinter dir? Du bist doch niemandes Sklave.«
»Das will ich nicht, noch nicht, denn ein Teil von mir glaubt tatsächlich, dass es ein Massenaussterben und eine neue Weltordnung geben wird.«
»Du glaubst also wirklich, dass du zu einer neuen Spezies Mensch gehörst?«
»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen.«
Reed dachte darüber nach. »Dann musst du also irgendwann ein weibliches, oder männliches, Gegenstück finden, stimmts? Und wie willst du so jemanden erkennen?«
»Kitty sagt, dass wir uns schon finden werden; das sei so, als habe man ein Radar. Nur«, er senkte die Stimme ein wenig, »hat meines bislang noch nicht funktioniert.«
»Ist denn deine Hellsichtigkeit das Einzige, was dich von anderen Menschen abhebt?« Reed deutete zur Seite. »Pass auf das Segelboot dort auf.«
»Zum großen Teil, ja.« Sebastian korrigierte den Kurs, um dem Schoner, der mit geblähten Segeln hart am Wind segelte, auszuweichen. »Aber es ist eher so ein Wissen, das ich in mir habe – so wie man weiß, dass man lebt –, ohne dass man groß darüber nachdenken muss.«
»Aber bislang hast du noch niemanden getroffen, der so ist wie du.«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Und deine Mutter, Kitty, ist die normal?«
Sebastian lachte. »Irgendjemand, irgendwo würde vermutlich finden, dass sie normal ist.«
»Wie konnte sie dann ein Kind wie dich bekommen? War dein Vater ein Übermensch?«
»Um ehrlich zu sein: Kitty behauptet, sich nicht an ihn erinnern zu können, aber ich schätze, er war ein toller Typ – der Vollkommenheit ziemlich nahe.«
»Das bedeutet also, dass du dich mit praktisch jedem fortpflanzen kannst, richtig? Dass es genügt, wenn nur ein Elternteil weiter fortgeschritten ist, damit deine wunderbare DNA weitergegeben wird?«
»Kitty meint, ich soll mir eine Frau suchen, die so ist wie ich – nur um sicher zu gehen. Wenn man blond ist, ist das ja auch keine Garantie dafür, dass die Kinder blond werden, es sei denn, man heiratet eine Blondine. Kitty sagt: Als sich der Homo erectus aus dem Homo habilis entwickelte, gab es nur auf der einen Seite eine genetische Mutation, aber irgendwie vollzog sich die gleiche Mutation auch an anderen Orten, und so haben die Angehörigen der neuen Spezies zueinandergefunden.«
Sebastian zog die Gashebel nach hinten, worauf das Boot langsamer wurde. »Ist es nicht interessant, Reed, dass jede neue menschliche Spezies besser aussieht und vollkommener ist als die vorausgehende?«
»Na gut«, räumte Reed ein, obwohl sie Mühe hatte, ihren zunehmenden Widerwillen gegen Sebastian zu ignorieren. »Aber selbst wenn du dem neuesten Modell des Menschen entsprichst, und du siehst schon ziemlich gut aus, macht dich das noch lange nicht perfekt.«
»Ganz genau«, sagte Sebastian, senkte den Blick und schaute auf ihre prallen Brüste. »Das ist dein Job – perfekt zu sein, meine ich.«
»Ach ja? Auf Schmeicheleien falle ich nicht herein.« Reed verdrehte die Augen. »Du bist
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