Prophetengift: Roman
Jahrhundert während der maurischen Besetzung Spaniens erbaut worden war. Es lag hoch oben in den Bergen von Costa Blanca,
die felsiger und höher waren als die Berge, die den größten Teil von Los Angeles umgaben. Die schwer erreichbare Lage kam den Bewohnern gut zupass: Die Mönche waren besonders brutal und lebten ohne Angst vor Vergeltung. Es gab sogar noch gut erhaltene Verliese aus den Tagen der Inquisition, und Berichte von den Strafen, die in diesen Zellen verhängt wurden, waren eine ausreichende Motivation für die Klosterschüler, sich an das strenge Regelwerk zu halten.
Aber manchmal geschah eben das Unerwartete – und das Unerklärliche.
Olivier fing an, Visionen zu haben.
Aber nicht die Art Visionen, die ein frommer katholischer Junge haben sollte.
Zwei Wochen zuvor war er vierzehn geworden, und es war um die Mittagszeit.
»Komm, spiel Fußball mit uns, Olivier!«, rief Federico von der anderen Seite des Hofes aus.
»Ich muss lernen!«, rief Olivier zurück. »Für den Lateintest heute nach dem Mittagessen – ich habe das Markus-Evangelium noch nicht auswendig gelernt, und der Frater sagt, er schlägt mich wieder, wenn ich durchfalle!«
Federico winkte ihm zu, sprang davon und ließ dabei den Ball zwischen seinen geschickten Füßen tänzeln.
Die Sonne stand hoch, und die Hitze, die von den Pflastersteinen abstrahlte, machte Olivier schläfrig; der Olivenbaum, unter dem er saß, bot wenig Schutz vor der Glut der sengenden Sonne.
Er hatte noch nicht mal gemerkt, dass er eingenickt war, bis er wieder aus dem Schlaf aufschreckte. Sein Herz raste, sein Atem ging schnell und er sah sich mit aufgerissenen Augen desorientiert auf dem Hof um. Kurz zuvor hatte er noch das Messer an seiner Kehle gespürt. Es verharrte, stach durch die Haut und sägte durch sein Fleisch. Und in der Sekunde, als seine Hand
hochfuhr, um sich schützend um seine unbedrohte Kehle zu legen, hatte er das kurze Blöken des Lamms aus dem Wirtschaftshof herüberschallen gehört.
Am Abend hatte er mit den anderen Klosterschülern seinen Platz an dem langen Holztisch eingenommen. Aber als sein Teller vor ihn hingestellt wurde, schlang er das Essen nicht herunter, sondern ihm wurde übel.
»Bist du krank, mein Junge?«, fragte ein Laienbruder ihn, als die anderen Jungen ihre Teller geleert und zum Abendgebet davongehüpft waren.
Olivier schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder. Ich kann das nur einfach nicht essen. Ich wurde Zeuge der Schlachtung dieses Lamms.«
»Gott hat die Tiere geschaffen, damit sie dem Menschen als Nahrung dienen. Verschmähst du die Gaben Gottes? Ist dein Stolz so groß geworden?«
Olivier nahm einen Bissen und spuckte ihn wieder aus.
Der Laienbruder packte ihn am Ohr und zerrte ihn zum Kloster hinüber. Und da der Abt eben sein Mahl beendet und sich den Bauch mit fettigem Lammfleisch und rotem Wein gefüllt hatte, war er nicht sonderlich erfreut über die Störung.
Bis er Olivier sah.
Den schönen Olivier.
Mit seinen poetischen, knospenden Muskeln und den wilden dunklen Augen.
Später an jenem Abend war Olivier – weinend und angeekelt – in sein Bett zurückgekehrt. Die anderen Jungen schliefen schon längst. Der Umstand, dass der Abt sanft mit ihm umgesprungen war und danach sogar um seine Vergebung und die Vergebung Gottes gefleht hatte, war ihm ein geringer Trost.
Doch am nächsten Morgen erwartete ihn nach dem Morgengebet eine kleine Überraschung. Als er gerade die Kapelle verlassen wollte, zog ihn einer der strenggesichtigen Mönche beiseite.
»Vom Abt«, flüsterte der Ordensbruder und drückte Olivier ein purpurnes Samtkästchen in die Hand.
Ohne viel Federlesen ließ Olivier es zu Boden fallen. »Von dem will ich nichts haben.«
Der Mönch ohrfeigte ihn und drückte ihn auf die Knie nieder. Mit brennendem Gesicht und gegen die Tränen ankämpfend hob er zögernd das Kästchen vom Boden auf. »Bitte richte dem Abt meinen Dank aus«, knurrte er an die Füße des Mannes gerichtet.
Der Mönch drehte sich um und ging. Seine schwere Kutte machte ein trockenes, kratzendes Geräusch auf dem Schieferfußboden der Kapelle.
Als er allein war, öffnete Olivier das Kästchen. Es enthielt einen Rosenkranz aus feinen weißen Perlen und einem zarten Kreuz, wie Spitze aus durchscheinendem Elfenbein. In der Mitte des Kreuzes saß ein geschliffener Stein, der die Farbe von Christi Blut hatte: ein funkelnder Rubin.
Es war der schönste Rosenkranz, den Olivier je zu Gesicht bekommen hatte.
So
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