Prophetengift: Roman
lernte Olivier, vom Abt kleine Gunstbeweise zu erlangen, ebenso wie von den anderen Mönchen, dem Prior und sogar den Laienbrüdern. Rasch entwickelte er die unheimliche Gabe, genau zu wissen, wer gerade hungrig auf ihn war und mit verträumtem Blick herumlief, verbotene Gelüste im Kopf.
Als Olivier im Alter von achtzehn Jahren das Kloster verließ, hatte er eine abgrundtiefe Abscheu vor diesem verfluchten Ort und allem, wofür er stand, entwickelt. Ebenso tief war sein Hass auf die Heilige Schrift, die er auswendig kannte ... obwohl er im Herzen verächtlich über die Botschaft hinter den
Worten lachte. Aber die Jahre im Kloster waren nicht umsonst gewesen. Er hatte gelernt, was für ein kostbares Gut er mit sich trug, wohin immer er ging: Er besaß Jugend, Charme und eine faszinierende Schönheit, und so gut wie jeder, dem er begegnete – Mann oder Frau, jung oder alt –, verfiel seinem Trance auslösenden Blick.
Irgendwann führten seine Reisen ihn nach Ballena Beach, wo er bei seinem Onkel unterkam – einem freundlichen, gelehrten Herrn, der seit Jahren Witwer war. Olivier ließ seine Magie spielen und brachte den Mann dazu, ihn zu seinem einzigen Erben zu machen, und stieß dann »zufällig« oben auf der Treppe mit ihm zusammen.
Einen Monat später gehörten das Haus und ein bescheidenes Vermögen ihm.
Ungefähr zur selben Zeit fing er an, Artikel über Sebastian Black zu lesen.
Laut verschiedenen Quellen war Sebastian früh in die Pubertät gekommen und schnell erwachsen geworden. Er war größer und stärker als andere seiner Generation, er sah außerordentlich gut aus und galt als extrem charismatischer Redner. Zudem war er in hohem Grade sexuell aktiv, ohne sich dafür zu entschuldigen, und besaß, wie ein Journalist es einmal nannte, »einen Sextrieb wie ein Satyr auf Viagra«.
Aber was Olivier wirklich umwarf, waren die Berichte über seine paranormalen Fähigkeiten: Sebastian Black erlebte Präkognitionen, Retrokognitionen und emotionsspezifische Telepathie.
Haargenau dieselben Phänomene, die auch Olivier erlebte.
Als er das erfuhr, hatte er aufgeregt seine Schwester angerufen und ihr von Sebastian erzählt. » Aurore, este hombre es como nosotros! «
»Was meinst du damit, er ist so wie wir?«, wollte Aurore wissen.
»Er hört die Gedanken anderer und hat Visionen von der Zukunft und er ist hochgewachsen und schön wie du. Seine neue Religion hilft Menschen, die in Not sind. Vielleicht kann er auch deinem Luke helfen.«
»Ach, lieber Bruder.« Sie seufzte. »Niemand außer Gott kann meinem Luke helfen.«
»Aber Aurore, dieser Sebastian weiß von Gott – und zwar nicht dem Gott der Mönche und Äbte. Du solltest zu ihm gehen. Rede mit ihm. Nächste Woche wird er in Bakersfield sein, das liegt nördlich von Los Angeles, zwei Stunden Fahrt von euch entfernt. Ich habe es bereits recherchiert.«
Wenn er es nur vorher gewusst hätte.
Die Morgendämmerung. Der Morgenstern. Aurore. Die Amerikaner konnten den schönen Namen nicht aussprechen, den ihre elegante französische Mutter ihr gegeben hatte.
Nach der Tragödie hatte Olivier wochenlang Mittel und Wege zur Bestrafung Sebastians und seiner Mutter ersonnen. Zuallererst musste er dafür sorgen, dass die beiden aus dem Verkehr gezogen wurden, damit sie nicht noch mehr verletzliche Anhänger betrügen konnten – daher die Flut anonymer, mit Bibelzitaten angereicherter Droh-Mails. Dann beauftragte er eine Anwaltssozietät, die einen Prozess gegen Sebastian und Kitty mit ziemlicher Sicherheit gewinnen würde, was sein ererbtes Vermögen fast aufzehrte.
Aber das reichte ihm noch nicht.
Sebastian und Kitty Black sollten nicht nur ihren Seelenfrieden und ihr Geld verlieren, sie sollten die Feuer der Hölle sehen, schmecken und spüren.
Also beschloss Olivier, all das nutzlose, lächerliche Wissen, das er im Kloster angehäuft hatte, sinnvoll einzusetzen. Er erinnerte sich, im Unterricht von einem obskuren Anti-Armageddon-Kult gehört zu haben, und er wusste, wenn es ihm gelang, sich als der Vertreter der jüngsten Generation der Fackelträger darzustellen
und einige leichtgläubige Evangelikale zu seiner Ansicht zu bekehren, würde ihm das seine Aufgabe sehr erleichtern.
Und nun war die Jagd auf Sebastian Black eröffnet.
Dank Dyson. Und dank Amber.
» Und ich will ihm geben den Morgenstern «, murmelte Olivier, während er die Terrasse verließ und zurück in das leere Chalet trat.
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Dienstagmorgen
Um die eventuell lauernden
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