Psycho Logisch - Nuetzliche Erkenntnisse der Alltagspsychologie
richten.
In der sogenannten Rauchstudie lässt man zum Beispiel Probanden in einem Zimmer warten und dort plötzlich weißen Rauch aus einer Öffnung strömen. Die meisten verlassen schnell den Raum – wenn sie dort alleine warten. Setzt man jedoch Lockvögel mit ins Zimmer, die ruhig bleiben, dann bleiben die Probanden auch ruhig – und sitzen. Selbst wenn sie kaum noch etwas sehen können vor Rauch. Riecht es in einem Flugzeug plötzlich nach Rauch, dann schauen wir uns um und prüfen, wie die anderen reagieren. Bleiben die ruhig, kann es nichts Schlimmes sein. Denken wir.
Schon das kann fatal sein. Denn die anderen wissen es meist auch nicht besser. Wie sollten sie? So schauen sich alle ratlos an – und jeder interpretiert den ratlos-abwartenden Blick des anderen so: Der bleibt ruhig und gelassen, also ist alles gar nicht so schlimm. Diesen Effekt nennen wir die »pluralistische Ignoranz«: Wenn sich niemand aufregt, regen wir uns auch nicht auf. Wenn dann auch noch manche als »Experten« in Erscheinung treten und ein Sonderwissen ausstrahlen, wähnen wir uns vollends auf der sicheren Seite. Ihnen vertrauen wir ja besonders, aber in plötzlichen Krisensituationen wissen Experten oft genauso wenig wie wir. Sie handeln nur selbstsicherer als andere (weil hier die Überlegenheitsillusion wirkt, siehe »›Zum Glück sind wir nicht so wie die Müllers …‹ – oder doch?«).
Regelmäßig hören wir von tragischen Unfällen in Urlaubsländern. Da versinkt ein schrottreifes Schiff auf offenem Meer oder ein ersichtlich betrunkener Fahrer donnert einen Bus mit Touristen an den Baum. Hinterher fragen sich die TV-Reporter: Wie um alles in der Welt konnte da jemand einsteigen? Die Antwort: Weil es die anderen auch taten. Sie blieben ruhig, also entschied jeder für sich: Situation ungefährlich.
Als am 11. September 2001 in New York das erste Flugzeug in einen Turm des World Trade Centers fliegt, verbreitet sich im Gebäude schnell die Ansage, alle sollen in ihren Büros bleiben, Ruhe bewahren und auf Rettung warten. So sind dort in der Tat die generellen Anweisungen für Notfälle, und »Experten« bekräftigen diese Anweisungen noch einmal in der entscheidenden Situation. Manche Büroarbeiter folgen ihrem Instinkt und laufen die Treppen herunter – und werden unten wieder hoch in ihre Büros geschickt. Und sie folgen.
Niemand, der in seinem Büro blieb, überlebte.
Die Überlebenden waren nur Menschen, die sich auf ihre eigene Wahrnehmung und Einschätzung verließen.
Doch zurück zum Zuschauereffekt und der Frage: Warum helfen Zuschauer so selten bei einem Notfall? Wird jemand in der U-Bahn verprügelt, dann mag ja am Anfang die Situation noch unklar sein. Möglicherweise handelt es sich nur um einen bösen »Spaß« zwischen Kumpels, vielleicht hört der Täter gleich wieder auf oder das Opfer ist stark genug, sich selbst zu wehren. Irgendwann kommt allerdings der Punkt, an dem die Information klar ist: Jemand ist in Gefahr und braucht Hilfe. Vielleicht schreit er sogar um Hilfe. Trotzdem tut die Masse der Menschen weiterhin so, als wäre nichts.
Dieses Phänomen nennen wir »Verantwortungsdiffusion«. Selbst wenn wir die Lage richtig einschätzen, fühlen wir uns weniger verantwortlich zu helfen, je mehr andere Menschen anwesend sind. Dies ergeben viele Experimente mit vorgetäuschten Notfällen, bei denen Probanden einmal alleine, dann in der Gruppe getestet werden.
Was lernen wir daraus?
Erstens: Unser Bauch kann uns in Krisensituationen unser Leben retten. Wenn Sie unsicher sind, fragen Sie sich: Was würde ich jetzt tun, wenn niemand sonst hier wäre? Denken Sie daran, dass andere wahrscheinlich nicht mehr wissen als Sie selbst – und hören Sie im Zweifel auf Ihren Instinkt. Das gilt auch schon vor einem Notfall – wenn es darum geht, überhaupt einzuschätzen, wie gefährlich eine Situation werden kann.
Zweitens: Sind Sie selbst Notfallopfer und brauchen Hilfe, tricksen Sie die pluralistische Ignoranz aus. Sagen Sie klar: »Ich brauche Hilfe.« Tricksen Sie dann die Verantwortungsdiffusion aus, indem Sie eine ganz konkrete Person ansprechen: »Sie mit der grauen Krawatte, bitte rufen Sie die Polizei.«
Und drittens: Retten Sie jemand anderem das Leben, indem Sie sich als Zuschauer an den Zuschauereffekt erinnern. Ein interessantes Studienergebnis gibt es nämlich noch: Menschen helfen eher, wenn sie vorher vom Zuschauereffekt gehört haben und ihnen das Problem daher bewusst ist. Erzählen Sie
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