Psychopath
auferstehen lassen – es ist nie ganz genau dasselbe.« Er hielt kurz inne. »Sie haben überlebt. Das bedeutet nicht, dass Sam auch überleben wird.«
Hank sprangen Tränen in die Augen.
»Er wird morgen die Wahrheit sagen«, erklärte Jonah. »Das gibt Ihnen eine letzte Chance, ihm beizustehen. Vergeben Sie diese Chance nicht, Hank. Helfen Sie dem Jugendamt, das Richtige zu tun. Stehen Sie hinter Sam.«
Schweigen.
»Dad?«, sagte Sam.
Hank weigerte sich, ihn anzusehen.
»Dad?«
Hank schlang seine Arme um sich und ließ den Kopf hängen.
»Es wird alles gut werden«, sagte Sam.
Jonah stockte schier der Atem, als er Zeuge wurde, wie dieses Opfer, diese junge, gequälte Seele, vor seinen Augen zum Heiler wurde.
Hanks Kinn zitterte. »Schon gut«, sagte er, den Blick noch immer starr auf den Boden gerichtet. »Schon gut. Wir werden es zusammen durchstehen.«
Sam lächelte das erste richtige Lächeln, das Jonah auf seinem Gesicht gesehen hatte, ein breites Grinsen von Ohr zu Ohr. Er stand auf und lief zu Hank, hielt jedoch inne, als Hank nicht den Kopf hob.
Jonah stockte wortwörtlich der Atem, während die Sekunden dahinkrochen, bleiern von der gewichtigen Frage, ob Hank – selbst nicht mehr als ein geschlagener, verängstigter Junge – hier und auf der Stelle zu einem echten Mann heranwachsen konnte, zu einem echten Vater, der bereit war, für seinen Sohn zu tun, was er nicht für sich selbst hatte tun können. Zehn, elf Sekunden verstrichen in diesem Fegefeuer. Und gerade, als Jonah die Hoffnung aufgeben wollte, gerade als er eingestehen wollte, dass Gott nicht in jedem Moment überall für jeden da sein kann, sah er zu seinem Erstaunen, wie Hank die Arme öffnete, seinen Sohn packte und ihn an sein Herz drückte. Und dann fühlte Jonah, wie Gottes Liebe auf sie alle herabschien, trotz Anna Beckwith und Scott Carmady und Paulette Bamberg und Sally Pierce und all der anderen. Trotz Heaven Garber. Trotz seines eigenen Ungeheuers von einem Vater. Trotz alles Bösen auf der Welt. Trotz des Bösen in ihm selbst. Und er wusste tief in seinem Herzen, dass er gerettet werden würde.
Auch wenn wir es oft übersehen, liegt der Welt eine Symmetrie zugrunde, ein allgegenwärtiges Muster. Wir sind miteinander auf mystische, unergründliche Weise verbunden, die wir kaum ermessen können. Während Hank Garber seinen Sohn in Jonahs Büro in der vierten Etage des Rock Springs Medical Center in Wyoming umarmte, wurde Clevenger dreitausenddreihundertvierundfünfzig Meilen entfernt in Linda Diarios Büro in der vierten Etage der Sozialbehörde von Boston geführt.
Er hatte bereits einige Runden vom Schwergewichtskampf dieses Tages hinter sich. Kane Warner hatte um sechs Uhrfrüh angerufen und gegen die Entscheidung der Times gewettert, den Brief des Highwaykillers abzudrucken, und er hatte Clevenger gewarnt, nicht zu antworten. »Sie würden damit eine laufende Ermittlung behindern«, hatte Warner gesagt.
»Zufällig war ich Teil dieser Ermittlung, bis Sie mich ausgeschlossen haben«, gab Clevenger zurück. »Jetzt muss ich es auf meine eigene Weise machen.«
»Sie kümmert wirklich niemand außer Sie selbst, stimmt’s?«
»Wenn ich Sie bemitleiden soll, besorgen Sie sich einen Termin.«
»Sie haben diesen Kerl dazu gebracht, sich auf eine sexuelle Beziehung zwischen Ihnen und Whitney zu fixieren«, sagte Warner. »Er hat Sie beide in Utah beobachtet. Und so wie ich seinen Brief verstehe, hat er sich die verdrehte Idee in den Kopf gesetzt, dass er Sie vor ihr retten kann. Der Kerl lauert möglicherweise in diesem Moment unten an der Ecke vor ihrer Wohnung. Und Ihnen ist das scheißegal.«
Das waren die letzten Worte, bevor Warner aufgelegt hatte, und sie gingen Clevenger immer noch im Kopf herum, als Linda Diario, die Leiterin des Jugendamts, hinter ihrem Schreibtisch aufstand, um ihn zu begrüßen.
»Es freut mich sehr, dass Sie sich so kurzfristig mit mir treffen konnten«, sagte Diario, eine obszön übergewichtige Frau, die unter all den Fettpolstern vierzig oder fünfzig sein mochte. Sie trug einen engen, marineblauen Rock, einen Gürtel aus goldfarbenen Kettengliedern und eine elfenbeinfarbene Seidenbluse mit einem viel zu tiefen Ausschnitt, der mehr von ihrem üppigen Dekolleté entblößte, als irgendjemand sehen wollte. Sie streckte Clevenger ihre Hand entgegen.
Clevenger schüttelte sie.
»Ich habe Richard O’Connor gebeten, bei diesem Gespräch anwesend zu sein. Er sollte jeden Moment hier
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