Psychopath
Kontaktpersonen beim Jugendamt befürchteten, er könne vielleicht versuchen, die Toten auferstehen zu lassen und sich Buße aufzuerlegen, statt einfach nur ein gutes Werk zu tun.
Was das Jugendamt nicht verstand, was der Schuldekan nicht verstand, war, dass Clevenger tatsächlich eine Wiederauferstehung im Sinn hatte – nicht die des Jungen, der Selbstmord begangen hatte, sondern der Teile von ihm und von Billy Bishop, die beinahe von ihren brutalen Vätern ausgelöscht worden waren. Das war die Herkulesarbeit, die er sich aufgebürdet hatte: den Jungen zu heilen und gleichzeitig den Jungen in sich selbst zu heilen. Er musste gesund werden – und zwar schnell –, um Billy gesund zu machen.
Eine von Dekan Walshs Sekretärinnen, eine Frau mittleren Alters im marineblauen Kostüm mit Perlenkette, trat im Vorzimmer zu Clevenger. »Der Dekan hat jetzt Zeit für Sie«, sagte sie mit einem Lächeln, das nicht wirklich ein Lächeln war, sondern eher eine freundliche Grimasse.
Clevenger folgte ihr an zwei anderen Sekretärinnen vorbei zu der offenen Tür zum Büro des Dekans.
Walsh schaute von den Papieren hoch, die er gerade unterschrieb, unterzeichnete noch ein paar weitere Seiten, dann stand er hinter seinem Schreibtisch auf und streckte Clevenger seine Hand entgegen. Er war ein nervöser Mann von fast sechzig, in einem blauweißen Nadelstreifenhemd mit hohen Manschetten. Sein Haar wirkte derart unnatürlich schwarz für sein Alter, dass Clevenger sich fragte, ob er es möglicherweise einer dieser ultramodernen Methoden der Haarverdichtung verdankte. »Freut mich, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte er, während er Clevengers Hand schüttelte. »Zumal ich mich nicht groß in Einzelheiten ergangen habe. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Clevenger setzte sich auf den Holzstuhl, auf den Walsh gezeigt hatte, und lehnte seinen Rücken gegen das Goldblatt-Emblem von Auden Prep – Atlas, der einen Füllfederhalter stemmt.
»Wie ich bereits angedeutet habe«, begann Walsh und setzte sich wieder, »ich fürchte, Billy steckt wieder einmal in Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«, wollte Clevenger wissen.
»Drogen«, erklärte Walsh und faltete seine Hände auf dem Schreibtisch.
»Drogen?« Seit er auf der Arbeit Walshs Anruf erhalten hatte, hatte Clevenger überlegt, was Billy angestellt haben könnte. Eine weitere Prügelei höchstwahrscheinlich. Mogeln bei der Geometriearbeit, die Billy an jenem Tag geschrieben hatte, wäre ebenfalls eine Möglichkeit gewesen, ebenso ein unerfreulicher, törichter Streich, den er einem Lehrer oder einem Klassenkameraden gespielt hatte. Aber Drogen waren Clevenger nicht in den Sinn gekommen, vielleicht weil er immer all seine Willenskraft aufbrachte, nicht an sie zu denken. Selbst nüchtern zu bleiben war noch immer eine Schlacht, die er jeden einzelnen Tag von neuem kämpfen musste.
»Marihuana«, sagte Dekan Walsh.
»Billy hat Gras geraucht?«
»Ich wünschte, es wäre so einfach.« Walsh zog die rechte Schublade seines Schreibtisches auf und holte einen Gefrierbeutel mit genügend Marihuana für gut fünfzig Joints hervor. Er hielt den Beutel zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, als sei es ein verwester Vogel. Dann ließ er ihn wieder in seine Schublade fallen. »Das wurde in seinem Spind gefunden.«
»Und wie kommt es, dass Sie es dort gefunden haben?«, wollte Clevenger wissen.
»Ein anderer Schüler hat sich an uns gewandt«, sagte Walsh und faltete seine Hände wie zum Gebet. »Wir haben hier in Auden einen Kodex.«
»Ein anderer Schüler hat sich an Sie gewandt und hat gesagt ...«
»Und hat gesagt: ›Billy Bishop verkauft Gras. Er versteckt es in seinem Spind.‹«
Clevenger atmete tief aus. Andere Kinder konnten es sich vielleicht erlauben, mit Drogen zu experimentieren, und würden es heil und unbeschadet überstehen, doch Billy war bereits psychologisch angeschlagen. Drogen konnten sich als eine ernste Gefahr für ihn entpuppen, ein unerwarteter Schauspieler auf der Bühne seiner Existenz, der imstande war, ihm die Show zu stehlen und sie in eine Tragödie zu verwandeln. »Wo ist Billy?«, fragte Clevenger.
»Er räumt seinen Spind aus«, antwortete Walsh. »Er ist der Schule verwiesen worden.«
»Verstehe«, sagte Clevenger. »Hatte er eine Menge Geld bei sich oder irgendwas in der Richtung? Ich meine, wie haben Sie die Anschuldigung des anderen Schülers nachgewiesen?«
»Der Beutel war in seinem Spind. Sie denken doch nicht, dass er
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