Psychopathen
umleiten – doch zu einem Preis. Auf eben diesem Gleis befindet sich eine andere Person, die stattdessen ums Leben kommen wird. Sollten Sie die Weiche umstellen?
Die meisten von uns haben wenig Probleme damit, zu entscheiden, was in dieser Situation zu tun ist. Die Aussicht, die Weiche umzustellen, ist zwar keine schöne, doch nach der Nutzenabwägung – ein Menschenleben zu opfern, um fünf zu retten – »das kleinere Übel«. Richtig?
Doch wie sieht es in folgender Situation aus (Fall 2), einer Variationdieses Gedankenexperiments, die von der Philosophin Judith Jarvis Thomson stammt: 6
Wie zuvor ist eine Straßenbahn außer Kontrolle geraten und rast auf fünf Menschen zu. Dieses Mal stehen Sie jedoch hinter einem sehr großen, fetten Fremden auf einer Fußgängerbrücke über den Gleisen. Die einzige Möglichkeit, die fünf Menschen zu retten, ist die, den Fremden von der Brücke zu stoßen. Er wird in den sicheren Tod fallen, doch mit seinem massigen Körper die Straßenbahn aufhalten und fünf Leben retten. Sollten Sie ihn stoßen?
Hier, so könnte man sagen, sehen wir uns einem »echten« Dilemma gegenüber. Obwohl das Verhältnis von geretteten und geopferten Menschenleben exakt dasselbe ist wie im ersten Beispiel (fünf zu eins), reagieren wir auf dieses Experiment ein bisschen vorsichtiger und nervöser. Und warum?
Joshua Green glaubt, dass er die Antwort kennt: In die Entscheidung sind jeweils unterschiedliche Klimaregionen im Gehirn involviert.
Fall 1, so Green, ist das, was wir als
unpersönliches
moralisches Dilemma bezeichnen könnten. Hier werden Gehirnregionen wie der präfrontale Kortex und die hintere Parietalrinde (insbesondere der
anteriore
paracinguläre Kortex, der Schläfenpol und die obere Schläfenfurche) aktiviert, die vornehmlich mit unserer objektiven Erfahrung der
kalten
Empathie zu tun haben: mit logischem, rationalem Denken.
Bei Fall 2 hingegen könnten wir von einem
persönlichen
moralischen Dilemma sprechen, bei dem das als Amygdala bekannte Emotionszentrum des Gehirns – der Schaltkreis der
warmen
Empathie – aktiviert wird.
Wie die meisten von uns haben Psychopathen relativ wenig Probleme in Fall 1. Sie stellen die Weiche um und die Straßenbahn wird umgeleitet und tötet nur einen statt fünf Menschen. Doch im Unterschied zu normalen Menschen – und da wird die Sache interessant – fackeln sie auch in Fall 2 nicht lange. Ohne mit der Wimper zu zucken, stoßen sie den fetten Mann von der Brücke, wenn die Situation es verlangt.
Dieser Verhaltensunterschied spiegelt sich auch sehr deutlich in den Gehirnaktivitäten wider. Deren Muster stimmen im Fall unpersönlicher moralischer Dilemmata bei Psychopathen und Nicht-Psychopathen überein, unterscheiden sich jedoch dramatisch, wenn die Dinge ein bisschen persönlicher werden.
Stellen Sie sich vor, ich hätte Sie an einen Magnetresonanztomographen angeschlossen und dann mit den beiden Szenarien konfrontiert. Was würde ich beobachten, während Sie sich durch diese moralischen Minenfelder lavieren? Etwa in dem Moment, in dem aus einem unpersönlichen Dilemma ein persönliches wird, würde ich sehen, dass Ihre Amygdala und die mit ihr verbundenen Schaltkreise – Ihr medialer orbitofrontaler Kortex z. B. – aufleuchten wie ein Spielautomat. In dem Moment haben nämlich die Emotionen ihre Münze eingeworfen, sozusagen. Bei einem Psychopathen würde ich jedoch nur Dunkelheit sehen. Das Nervencasino wäre verschlossen und verlassen und der Übergang vom Unpersönlichen zum Persönlichen ginge unbemerkt vonstatten.
Die Unterscheidung zwischen warmer und kalter Empathie – der Art von Empathie, die wir »fühlen«, wenn wir andere beobachten, und dem emotionalen Kalkül, das es uns ermöglicht, gelassen und unvoreingenommen abzuschätzen, was ein anderer denken könnte, ist gewiss Musik in den Ohren von Theoretikern wie Reid Meloy und Kent Bailey. Psychopathen mag es an der gefühlsbetonten Variante mangeln. Doch wenn es um das »Verstehen« statt um das »Fühlen« geht, das eine unpersönliche, unberührte Vorhersage im Gegensatz zu einer persönlichen Identifikation ermöglicht und sich auf das symbolische Verarbeiten statt auf die affektive Symbiose stützt, dann sind die Psychopathen eine Klasse für sich. Das sind genau die kognitiven Fertigkeiten, über die geschickte Jäger und im kalten Deuten Geübte nicht nur in der freien Natur, sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen verfügen. Sie fliegen mit nur einem
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