Psychopathen
Undenkbare zu tun, hätte es dann in jener Nacht im Jahr 1841 rund 250 Meilen vor der Küste Neufundlands im tobenden Nordatlantik auch nur einen einzigen Überlebenden der
William-Brown- Tragödie
gegeben?
4 Die Weisheit der Psychopathen
Dass es mir egal ist, heißt noch lange nicht,
dass ich es nicht verstehe.
Homer Simpson
Neujahrsvorsätze
Wissen Sie was? Mein ältester Freund ist ein Psychopath. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, wie eine der Kindergärtnerinnen mich mit zum Sandkasten nahm und mit diesem pummeligen blonden Kind bekanntmachte, das mit einem jener Puzzles spielte, bei dem man die richtige Form ins richtige Loch stecken muss. Ich nahm also einen Stern und versuchte, ihn durch das Loch zu schieben, das eindeutig für den Papageien gedacht war, wie ich heute weiß. Der Stern passte nicht hindurch. Schlimmer noch, er blieb stecken. Johnny verbrachte rund zwanzig Sekunden damit (eine Ewigkeit im Leben eines Fünfjährigen), ihn wieder herauszuziehen. Und stieß mir das verdammte Ding dann ins Auge. Dieser herzlose, nicht provozierte und, offen gesagt, äußerst kindische Angriff kennzeichnete mehr oder weniger den Höhepunkt unserer Freundschaft.
Spulen wir rund zehn Jahre vor und Johnny und ich befinden uns zusammen auf der Sekundarschule. Es ist Pause, und er kommt zu mir herüber und fragt, ob er sich meine Geschichtshausaufgabe ausleihen kann. Er hat seine »zu Hause liegen lassen« – und raten Sie mal, was wir in der nächsten Stunde haben.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt Johnny. »Es wird garantiert nicht auffallen. Ich werde das Ganze völlig umschreiben.«
Ich gebe ihm die Hausaufgabe und treffe ihn dann zu Beginnder nächsten Stunde wieder. »Hast du meine Aufgabe, Johnny?«, flüstere ich.
Johnny schüttelt den Kopf. »Tut mir leid«, sagt er. »Keine Chance.«
Ich gerate in Panik. Mit unserem Geschichtslehrer ist nicht zu spaßen. Keine Hausaufgabe heißt keine Note. Und Nachsitzen.
»Was soll das heißen, keine Chance?«, zische ich. »Wo hast du sie?«
Seelenruhig, so als würde er eine Gutenachtgeschichte erzählen, erklärt Johnny mir: »Na ja, Kev, die Sache ist die. Ich hab einfach keine Zeit gehabt, den Text umzuschreiben. Also hab ich alles wörtlich abgeschrieben.«
»Aber das erklärt nicht, wo meine Hausaufgabe ist, oder?«, kreische ich, als der Lehrer, der nicht gerade für seine soziale Kompetenz bekannt ist, ins Klassenzimmer stürmt.
Johnny sieht mich an, als sei ich völlig verrückt. »Wir können doch nicht beide dieselbe Arbeit abgeben, oder?«, sagt er.
»Nein!«, rufe ich aus, »das können wir nicht!« Ich hab die Sache noch immer nicht verstanden. »Wo zum Teufel hast du also meine Hausaufgabe?«
Johnny zuckt die Schultern. Und nimmt »seine« Arbeit heraus, damit der Lehrer sie einsammeln kann.
»Sie liegt im Mülleimer«, sagt er lässig. »Hinter dem Musikblock.«
Instinktiv springe ich von meinem Stuhl hoch. Vielleicht habe ich noch Zeit, sie zu holen, bevor der Unterricht beginnt.
»Du Arschloch«, knurre ich im Flüsterton. »Ich bringe dich um.«
Johnny packt mich am Arm und zerrt mich auf meinen Stuhl zurück. »Hör mal«, sagt er mit einem besorgten, fürsorglichen Lächeln und deutet auf das Fenster. »Es schüttet draußen und du wirst bis auf die Haut nass werden. Du willst dir doch nicht die Chance versauen, nächste Woche den Schulrekord über die Meile zu brechen, nur weil du dir irgendwas einfängst, oder?«
In Johnnys Stimme ist nicht die Spur von Ironie zu hören.Ich kenne ihn lange genug, um zu begreifen, dass er wirklich davon überzeugt ist, er mache sich meinetwegen Sorgen. Er glaubt tatsächlich, dass er nur das Beste für mich will. In diesem Moment kann ich ihm ärgerlicherweise nur zustimmen. Der Mistkerl hat nicht ganz unrecht. Der Rekord besteht seit den frühen Sechzigern und das Training ist gut gelaufen. Es wäre eine Schande, durch eine dumme Aktion in der letzten Minute all die harte Arbeit zu ruinieren.
Ich sacke auf meinem Stuhl in mich zusammen und ergebe mich meinem Schicksal.
»Guter Junge«, sagt Johnny. »Schließlich geht es nur um eine Hausaufgabe. Das Leben ist zu kurz.«
Ich höre nicht zu, denn ich bin schon dabei, mir eine plausible Erklärung zurechtzulegen, warum ich die Hausaufgabe nicht habe. Und überlege, dass ich sie trocknen kann, wenn sie vom Regen nicht zu stark beschädigt ist, oder sie abschreiben und später abgeben kann, wenn
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