Psychopathen
Ungebremste Aggression und bedingungslose Kapitulation werden in einer durch mannigfaltige Interaktionen und gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichneten Gesellschaft als Strategien des sozialen Austauschs versagen. Bei einem solchen Prozess, der im Grunde genommen auf einen Wippeneffekt hinausläuft, ist jede der beiden Strategien anfällig dafür, durch die andere ausgebeutet zu werden, sobald diese die Vorherrschaft erlangt hat: sobald die Gruppe der Verfechter einer Strategie groß genug wird, um von den Anhängern der rivalisierenden Strategie ausgenutzt zu werden. Weder unqualifizierte Kooperation noch unqualifizierter Wettbewerb können als
evolutionär stabile [19]
Überlebensstrategien betrachtet werden, um es mit einem Begriff aus der Soziobiologie zu beschreiben. Beide können von mutierenden Gegenstrategien übertrumpft werden.
Aber können wir diesen sich wiederholenden Prozess – das wiederholte Sich-Entfalten der Dynamik des Gefangenendilemmas – tatsächlich in Aktion beobachten? Schließlich haben wir es hier mit einem Gedankenexperiment und nicht mit dem wirklichen Leben zu tun.
Die Antwort hängt davon ab, was wir unter »wirklich« verstehen. Wenn wir bereit sind, dabei auch das »Virtuelle« mit einzubeziehen, haben wir vielleicht Glück.
Virtuelle Moral
Stellen Sie sich vor, ich würde ein Experiment über Reaktionen der Menschen auf das Unerwartete durchführen und Ihnen folgendes Angebot machen. Für 500 Pfund entledigen Sie sich all Ihrer Kleidungsstücke und spazieren völlig nackt in eine Bar, um sich zu einer Gruppe von Freunden zu gesellen. Sie müssen sich zu ihnen an den Tisch setzen und fünf Minuten lang mit ihnen sprechen (das sind hundert Pfund pro Minute!). In diesen fünf Minuten werden Sie mit voller Wucht die unerträgliche Peinlichkeit spüren, die dieses Unternehmen zweifellos mit sich bringt. Doch anschließend verlassen Sie die Bar unbeschadet und ich gebe Ihnen die Garantie, dass weder Sie noch sonst einer der Anwesenden sich an das Ereignis erinnern wird. Denn ich werde die Erinnerung daran auslöschen. Abgesehen von den Scheinchen in Ihrer Tasche, die darauf warten, ausgegeben zu werden, wird es so sein, als sei nie etwas geschehen.
Würden Sie es tun? Und woher wissen Sie überhaupt, dass Sie es nicht bereits getan haben?
Ich bin mir sicher, dass sich einige Leute um des wissenschaftlichen Fortschritts willen gern vollständig entkleiden würden. Wäre es nicht unglaublich befreiend, wenn wir in eine flüchtige, in sich geschlossene Welt eintauchen und wieder aus ihr verschwinden könnten, in der man Erfahrungen stundenweisemieten kann? Genau um dieses Thema ging es in dem Film ›Matrix‹: um Menschen, die in einer virtuellen Welt leben, die unwiderstehlich real zu sein schien. Wie aber wäre es mit dem umgekehrten Fall? Was, wenn Computer eine menschliche Welt bevölkern würden?
Ende der 1970er-Jahre stellte der Politikwissenschaftler Robert Axelrod genau diese Frage in Bezug auf das Gefangenendilemma – und stieß auf eine Methode, mit der man das Paradigma digitalisieren und eine Strategie festlegen konnte, die im Lauf der Zeit und mit wiederholten Interaktionen alle Kriterien der evolutionären Stabilität erfüllte. 65 Eine Methode, die das Genom des alltäglichen sozialen Austauschs sequenzierte.
Zunächst stellte Axelrod einigen führenden Spieltheoretikern der Welt seine Idee vor, ein Gefangenendilemma-Turnier durchzuführen, bei dem die einzigen Teilnehmer Computerprogramme wären. Dann lud er sie dazu ein, für dieses Turnier ein Programm einzusenden, das eine vorgegebene Strategie für die Wahl von Kooperation oder Nichtkooperation enthielt. Als die Programme eingetroffen waren (insgesamt vierzehn), gab es vor dem Beginn des Hauptwettkampfes ein Vorturnier, bei dem jedes Programm gegen das andere um Punkte kämpfte. Nach dieser Vorrunde addierte Axelrod die Punkte und ließ dann das Hauptturnier starten, wobei der Anteil der vertretenen Programme sich nach der Anzahl der Punkte richtete, die die einzelnen Programme in der Vorrunde erzielt hatten – genau in Einklang mit den Einschränkungen der natürlichen Auslese. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete, was passierte.
Wie sich herausstellte, war das erfolgreichste Programm auch das bei Weitem einfachste. TIT FOR TAT (»Wie du mir, so ich dir«) stammte von dem Mathematiker und Biologen Anatol Rapoport, der mit seiner Pionierarbeit zur sozialen Interaktion und Allgemeinen Systemtheorie
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