Psychopathen
gesellschaftliche Werte, Praktiken und Überzeugungen herausbilden und wie sie durch genetische, neuronale und psychologische Prozesse über Zeiten und Kulturen hinweg geformt werden. 121 Falls die Gesellschaft
tatsächlich
psychopathischer wurde, war dann bereits ein Gen damit beschäftigt, mehr Psychopathen zu produzieren?, fragte ich mich. Oder war es vielmehr so, dass Bräuche und Sitten zu einem Teil der Kultur und für den Menschen schließlich zur zweiten Natur wurden, wie Steven Pinker dies in seinen Ausführungen zur »Kultur der Würde« erklärt hatte?
Hare ist der Ansicht, dass wahrscheinlich beides eine Rolle spielt: dass Psychopathen im Moment sozusagen einen Lauf haben und dass ihr Verhalten in dem Maße normativer wird, indem sie erfolgreicher werden. Er weist auf das Aufkommen der Epigenetik hin – einen neuen Zweig der Genetik, der sich, einfach gesagt, mit Veränderungen von Genaktivitäten beschäftigt, die keine strukturellen Veränderungen des genetischen Codes per se beinhalten, aber dennoch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. 122 Diese Muster der Genexpression werden von kleinen »Schaltern« gesteuert, die oben auf dem Genom sitzen. Es liegt eher am Herumhantieren mit diesen Schaltern als an einer komplizierten inneren Neuverdrahtung, dass Umweltfaktoren wie Ernährung, Stress und sogar pränatale Ernährung eine Rolle spielen. Wie durch mutwillige biologische Poltergeister werden unsere Gene an- und abgeschaltet und lassen ihre Anwesenheit in Arealen spürbarwerden, die uns schon vor Urzeiten von unseren Vorfahren vererbt wurden.
Hare erzählt mir von einer Studie, die in den 1980er-Jahren in Schweden durchgeführt wurde. 123 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Överkalix, eine entlegene Gemeinde im Norden des Landes, mit einer Folge von schlechten und unvorhersehbar guten Ernten zu kämpfen. Hungerjahre wurden von Jahren mit reichen Ernten abgelöst.
Als die Wissenschaftler die landwirtschaftlichen Archive durchforsteten und die gewonnenen Daten dann mit Daten aus dem Gemeinderegister verglichen, entdeckten sie etwas sehr Geheimnisvolles: ein epidemiologisches Vererbungsmuster, das die Genetik auf den Kopf stellte. Die Söhne und Enkel von Männern, deren Präpubertät [33] mit einer Zeit der Hungersnot zusammenfiel, hatten ein vermindertes Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung (wie Schlaganfall, hoher Blutdruck oder Koronarproblemen) zu sterben. Im Gegensatz dazu hatten die Söhne und Enkel von Männern, deren Präpubertät mit reichen Erntejahren zusammenfiel, ein erhöhtes Risiko, diabetesbedingten Erkrankungen zu erliegen.
Es war unglaublich. Ohne dass sie Einfluss darauf hatten nehmen können, war bei nachfolgenden Generationen von Söhnen und Enkeln die kardiovaskulare und endokrinologische Zukunft durch die zufälligen ökologischen Gegebenheiten einer längst vergangenen Zeit festgelegt worden. Einer Zeit noch vor ihrer Geburt.
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Ist es also möglich«, frage ich in dem Versuch, alles miteinander zu verknüpfen – Pinker und seine kulturellen Schiedsrichter, Boddy und seinen Unternehmens-Attila sowie den ganzenepigenetischen Kram –, »dass Psychopathen den Würfel haben rollen lassen und dass inzwischen immer mehr von uns ihn mit ihnen rollen lassen?«
Hare bestellt noch eine Runde Whisky.
»Nicht nur das«, sagt er. »Wenn die Epigenetik im Lauf der Zeit hinter den Kulissen damit anfängt, sich einzumischen, werden diese Würfel auch zunehmend gezinkt sein. Es besteht kein Zweifel daran, dass es Elemente der psychopathischen Persönlichkeit gibt, die sich ideal dazu eignen, an die Spitze zu gelangen. Und sobald sie dort angekommen sind, können sie natürlich bestimmen, wo es langgeht ... Denken Sie nur an das, was an der Wall Street passiert ist ... Das war eine Entwicklung von oben nach unten. Doch während diese Entwicklung Fuß fasst, befähigt sie diejenigen auf niedrigeren Ebenen des Managements, denen es am besten gelingt, mit ihr fertig zu werden, sich nach oben zu arbeiten ...
In den Sechzigerjahren gab es einen Schriftsteller namens Alan Harrington, der glaubte, der Psychopath sei die nächste Stufe der Evolution: der nächste Trick, den die natürliche Auslese auf Lager hat, während die Gesellschaft sich schneller verändert und der Zusammenhalt lockerer wird. 124 Vielleicht hatte er recht. Im Moment lässt sich das überhaupt noch nicht sagen. Aber in den Genetiklabors wird zurzeit zweifellos
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