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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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Kalthoff.» Das ist Fredericks Klassenlehrerin.
    «Was ist passiert?»
    Er zögert einen Augenblick. «Tja, ich bin aufgestanden, hab mich in die Ecke gestellt und da hingepinkelt.»
    «Find ich ’ne verdammte Sauerei von dir», rufe ich spontan.
    «Ich auch!», entgegnet Frederick. «Aber was soll man machen?» Er sieht mich fragend an. «Ehrlich, was soll man da machen?»
    «Bestimmt nicht in die Ecke pinkeln!»
    «Musste sein. Die hatte doch für alles Verständnis, also so etwas!»
    Er schüttelt den Kopf. «Ich wusste doch nie, wann die sauer auf mich oder die Klasse war. Ehrlich! Das wusste man nicht!»
    «Du wolltest mal sehen, wie weit du gehen kannst?»
    Frederick schmunzelt.
    «Und?»
    «War das eine harte Arbeit, bis ich das wusste!» Er überlegt, er wirkt fast weise. «Vier Jahre, stellen Sie sich das vor   … vier Jahre!»
     
    Fehlendes Schamgefühl – ein Hilfeschrei
    Ganz anders stellt sich die Situation beim sechseinhalbjährigen Moritz dar. Er besucht den Hort. Wenn er aus der Schule kommt, geht er nach einer kurzen Begrüßung seines Erziehers schnell ins Freigelände und hinterlässt – wie es Jan, sein Betreuer, ausdrückt – «dort seine Duftmarken. Er hockt sich hin und scheißt. Er streitet das auch gar nicht ab. Konsequenzen haben nichts gebracht. Als er einmal nicht mehr hinausgehen durfte, hat er es eben im Gruppenraum gemacht oder in der Toilette neben die Schüssel.»
    Moritz’ fehlendes Schamgefühl, mit dem er sich bloßstellt und andere hilflos macht, ist ein verzweifelt krasser Ruf nach Aufmerksamkeit, nach Hilfe und Unterstützung. Moritz lebt in einer komplizierten, sehr gespannten Familiensituation. Seine Eltern haben höchst uneinige Erziehungsstile: Die Mutter kontrolliert ihren Sohn sehr stark, verwechselt Erziehung mit – auch körperlicher – Zurichtung, der Vater praktiziert eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, mal eine erdrückende, liebevolle Zuwendung, die kaum Grenzen kennt, mal eine körperliche und verbale Gewalt, die wie aus heiterem Himmel kommt, für Moritz meist nicht nachvollziehbar ist. In solchen Situationen fangen die Eltern an, zu streiten, sich zu beschimpfen. Dann ist die Redevon Trennung und sofortigem Auszug. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe wegen des Verhaltens ihres Sohnes. «Wenn du dich nicht besserst», so hat die Mutter ihren Sohn vor einiger Zeit einmal angebrüllt, «dann zieht Papa aus, und auch ich hau ab. Dann kannst du sehen, wo du bleibst!» Moritz fühlt sich seit dieser Zeit schuldig, hat er doch das Gefühl, seine Eltern trennten sich möglicherweise seinetwegen. Moritz macht – im wahrsten Sinne des Wortes – «Scheiß», um auf sich aufmerksam zu machen. Er ist schamlos, schämt sich nicht, wenn er seine «Duftmarke» setzt, weil er nur so auf die erlittenen Demütigungen hinweisen kann.
     
    Zurück zur entwicklungsbedingten Veränderung von Schamgefühlen. Die Pubertät ist nach dem Säuglingsalter die wichtigste Übergangszeit. Während am Ende des ersten Lebensjahres das Hineingleiten in das Kleinkindalter steht, die Lösung aus der symbiotischen Einheit mit der Mutter, bedeutet die Pubertät den Abschied von der Kindheit. Sie ist eine Art zweite Geburt vor den Augen und Ohren der Erwachsenen. Es ist – für alle Beteiligten – ein schmerzhafter Prozess. Der Körper des Heranwachsenden verändert sich – und dabei entsteht nicht sofort ein Adonis oder eine Venus. Die Pubertierenden schämen sich wegen ihrer Körper. Manchem Pubertierenden wächst zuerst die Nase im Gesicht, sodass er eher einem ungelenken Pinocchio gleicht, bei manchem wachsen zuerst die Arme, die an einem viel zu kurzen Körper herunterbaumeln. Der Muskeltonus fehlt, alles wirkt schlaff, fast so, als würden sie nur herumhängen. Bei pubertierenden Mädchen erkennt man Fettpölsterchen, die sich irgendwann – aus der Sicht der Mädchen nach unendlich langer Zeit – verwachsen, aber momentan unansehnlich wirken. Man zieht sich zurück oder steht stundenlang vor dem Spiegel, prüft ununterbrochen, ob alles in Ordnung ist, findet sich im Prinzip zu fett, zu aufgedunsen, einfach «beknackt», wie sich der Körper darstellt. Man schämt sich wegen der sich verändernden Körperproportionen,ist unleidlich, ist traurig, ist verzweifelt – und dann sind da noch die Eltern, die sich über einen lustig machen, die vielleicht darüber spotten, dass man die Badezimmertür abschließt, sich nicht anschauen lassen mag. Die Pubertierenden fühlen sich

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