Pubertät – Loslassen und Haltgeben
der Erwachsene. Zum «Fremdeln» zählt auch, wie sich das Kind später in öffentlichen Räumen verhält, wie es dort Kontakt zu Menschen aufnimmt. Ob es beispielsweise die Hand zur Begrüßung oder zum Abschied reicht, ob es Danke sagt – oder eben seinen ganz persönlichen Stil entwickelt, soziale Beziehungen herzustellen. Gerade stark fremdelnde Kinder, deren Handeln zusätzlich durch ein introvertiertes Temperament überlagert wird, haben leise, stille, häufig übersehene Möglichkeiten, sich auszudrücken: Da ist der zweijährige Tom auf dem Arm der Mutter und winkt ganz langsam, fast zögernd, zum Abschied, indem er nur die Fingerchen der linken Hand vorsichtig bewegt. Da lächelt Anna, die noch nicht Danke sagt, ihr Gegenüber an, weil sie so schüchtern ist. Manchmal drückt eine liebevolle Geste eben mehr aus als tausend Worte, die nicht von Herzen kommen, sondern weil es erwartet wird.
Die Basis für das Schamgefühl wird zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr gelegt. In dieser Zeit wird sich das Kind eines eigenen Schamgefühls allmählich bewusst. Das Schamgefühl geht einher mit der Ausbildung einer eigenen Identität, die sich vor allem über die Körperlichkeit vermittelt. Das Kind wird sich seiner psychischen, aber auch physischen Stärke bewusst. Esgrenzt sich ab, setzt zugleich Grenzen. Hörbarer Ausdruck dieser Entwicklung sind die Wörter «Ich!» und «Nein!».
Zeigte sich das Kleinkind noch gerne nackt, fiel dem Kleinkind kaum auf, wenn es sich entblößt zwischen vielen angezogenen Menschen befand, präsentierte der Junge stolz seinen erigierten Penis der Kaffeetafel im Wohnzimmer, masturbierte er fröhlich und versonnen überall dort, wo er sich gerade befand, so schlägt dieses «vormoralische» Handeln zwischen dem vierten und achten Lebensjahr von einem Tag zum nächsten in ein anderes Verhaltensmuster um: Kinder zeigen sich nicht mehr nackt, wenn auch andere angezogen sind. Sie ziehen sich auf die Toilette zurück und präsentieren nicht mehr stolz ihr «großes Geschäft». Doktorspiele finden hinter verschlossenen Türen statt, nicht aber in der Öffentlichkeit, und sind nur einem vertrauten Kreis vorbehalten, zu dem Erwachsene keinen Zutritt haben.
Das Schulkind geht weiter auf Distanz – «Mein Körper gehört mir!». Das Schulkind will aber zugleich Nähe, elterliche Liebe. Für Eltern ist diese Choreographie des Schamgefühls – «Haltet mich, aber lasst mich los!» – nicht immer leicht einzuschätzen und auszuhalten. Viele Eltern reagieren mit Unverständnis, Unsicherheit: Die einen lassen zu schnell los, wollen das Kind nicht bedrängen, andere reagieren mit starker Zurechtweisung, mit Dressur, wenn das Kind Grenzen überschreitet, nicht so handelt, wie man es gerne möchte. Dann fallen Sätze wie: «Schämst du dich denn nicht?», oder: «Du machst Omi ganz traurig, wenn du ihr nicht die Hand gibst!»
Die Veränderung des Schamgefühls als Ausdruck einer Entwicklungsphase setzt sich im Schulalter fort: Man zeigt sich nur noch ungern nackt, zieht sich zur Selbstbefriedigung zurück. Man spielt nicht mehr mit dem Kot, wie es noch die Kleinkinder machen. Schulkinder setzen klare Grenzen, was das Schamgefühl anbetrifft. Wenn es dann zu Grenzüberschreitungen im Schamgefühl kommt, dann steckt dahinter eine jugendkulturelleProvokation, um Regeln, Rituale oder Absprachen auszutesten – oder aber ein Hilferuf.
«Heute ist sie heulend rausgerannt!»
Ich komme eine Woche vor Beginn der großen Ferien in eine vierte Grundschulklasse. Ich kenne die Kinder durch zwei Hospitationen, die ich auf Wunsch der Klassenlehrerin durchgeführt habe. Der Grund waren die «ständigen Anmachen», denen sie sich ausgesetzt fühlte. Als ich die Schule betrete, kommt mir Frederick, einer der «Wortführer und Unruhestifter», entgegen. Er strahlt: «Heute haben wir es geschafft!»
«Toll, habt ihr schon eure Noten erfahren?»
Frederick schaut verwundert. «Wieso Zeugnisse?»
«Na ja, das Schuljahr geht doch zu Ende. Und ich denke, nun weißt du, wie’s weitergeht!»
Bei diesen Worten schüttelt er heftig den Kopf. «Quatsch! Wir haben’s heute geschafft!»
Er schaut mich an, als ob ich eine lange Leitung hätte.
«Kapieren Sie’s immer noch nicht?» Ich zucke die Schultern.
«Heute ist sie heulend rausgerannt!» Ein Grinsen breitet sich über sein Gesicht aus.
«Wer ist rausgerannt?»
Frederick atmet tief aus, sagt in einer Mischung aus Mitleid und Verständnis: «Na, Frau
Weitere Kostenlose Bücher