Puna - Toedliche Spurensuche
können. Anja lief ständig weiter. Sie ignorierte das Stechen in der Seite. Sie ignorierte die Luftnot. Wenn sie sich kurz umdrehte, sah sie nur die grellen Scheinwerfer eines ansonsten dunklen Autos. Sie lief ununterbrochen weiter. Schließlich sah sie in einiger Entfernung eine Mauer vor sich. Schweiß brach ihr aus. »Nicht das noch ...«, dachte sie. Aber dann, je näher sie der Mauer kam, desto mehr Einzelheiten konnte sie im Dunkeln erkennen. »Das kann doch nicht wahr sein«, rief sie. Aber es lies sich nicht verleugnen. Vor der Mauer stand Ariana. »Hilf mir, Ariana«, rief sie. Aber die Frau vor der Mauer machte keine Anstalten, sich zu bewegen. »Was ist los«, rief Anja, »ich brauche Deine Hilfe«. Die Frau hob ihren rechten Arm und griff unterstützend mit der linken Hand zu. Erst jetzt erkannte Anja, dass Ariana ein Gewehr in der Hand hielt und auf sie richtete. »Wieso läufst du davon ?« , fragte sie monoton. »Weil ich verfolgt werde. Siehst du das nicht ?« , antwortete Anja. In dem Moment hörte sie schon einen Knall und Boden spritzte vor ihren Füßen auf. Erschrocken blieb Anja stehen und fragte: »Was soll das? Wieso schießt du auf mich? Wir sind doch Freundinnen«.
»Weil du mich verraten hast ?«
»Wann habe ich Dich verraten ?« , fragte Anja.
»Seit du vor der Gefahr wegläufst, anstatt nachzudenken«, gab Ariana zurück. »Wir haben zweimal in der Woche Selbstverteidigung geübt. Und jetzt rennst du kopflos davon«.
»Was hat es denn Dir gebracht? Du bist im Krankenhaus gelandet«, gab Anja zurück.
»Ich bin überrascht worden. Als ich Dich besuchen wollte, hatte ich nicht mit einem derartigen Angriff gerechnet. Aber du wirst nicht angegriffen. Du wirst nur bedroht«
»Du bist mir eine schöne Freundin«, schrie ihr Anja entgegen. Ihr Atem ging schnell und ihre Kleidung klebte ihr am Leib. Sie öffnete die Augen. In ihrem Zimmer war es dunkel. Sie versuchte, irgendwelche Geräusche auszumachen. Aber alles blieb ruhig.
Anja versuchte eine Zeitlang zu lesen. Danach unternahm sie einen neuen Versuch, zu schlafen. Wieder tauchte sie in eine unvorteilhafte Traumwelt ein: Sie stand vor Gericht. Der Richter, ein alter Mann mit langem Bart, hielt mit der rechten Hand vor sich eine Waage hoch. Er blickte auf eine große Sanduhr vor sich. Es war nicht mehr viel Sand zum Durchrieseln in dem oberen Glas. Beide Waagschalen befanden sich auf einer Höhe. »Die Anhörung ist gleich beendet«, sagte er. Anja bekam feuchte Hände. »Frau Koswig, zurzeit sieht es nicht gut für sie aus«. Der Richter erteilte der Gegenseite das Wort. Anja traute ihren Ohren nicht. Es war Rudolfo, der gegen sie aussagte. Der berichtete von einer zunächst sympathischen Frau. Aber er ging sehr schnell dazu über, dass sie ihre Zeit vertue und anderen Menschen zur Last falle. Sobald Schwierigkeiten kämen, liefe sie weg. Er selbst sei als Taxifahrer schon mehrmals überfallen worden. Und trotzdem fahre er immer noch. Sie sei dagegen nur bedroht worden und liefe weg. Er könne gar nicht mehr zählen, wie häufig man ihn in seinem Leben bedroht habe .«
Der Richter beendete die Anhörung und fällte sofort das Urteil gegen Anja. Sie sollte für acht Jahre in ein Arbeitslager gesteckt werden. Begründung: Sie stehle anderer Leute Zeit. Stetig sauste der Hammer des Richters nieder und verursachte ein lautes Pochen. Anja öffnete die Augen. Sie atmete wie ein Langstreckenläufer nach dem Zieleinlauf. Draußen schien jemand einen Rollkoffer hinter sich über den gefliesten Flurboden zu ziehen. Jedes Mal, wenn die Kofferrollen gegen die nächste Fliese stießen, gab es ein pochendes Geräusch. Sie sah auf die Uhr. Es war erst ein Uhr früh. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Einen weiteren Alptraum wollte Sie nicht.
12. Kapitel
Anja saß bereits früh im Taxi. Nachdem sie ausgecheckt und ihr Gepäck bei der Rezeption abgegeben hatte, war sie noch kurz frühstücken gegangen. Mit Nathan hatte sie sich für Mittag verabredet. Jetzt ließ sie sich wieder Richtung Flughafen fahren. Es ging weiter in die Avenida Peru, in die Calle Constitution und schließlich in die Calle Oquendo. Dort betrieb die Kirche Jesu Christi der letzten Tage ein Familienforschungszentrum. Über die Mikrofilme der Mormonen kam Anja bis zu den Eltern von Paulino Esteban Pinto Staller. Sie hatte sogar das Glück, dort im Internet recherchieren zu können. Die ältere Dame, die ihr die betreffenden Mikrofilmrollen gab, hatte ein Einsehen und
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