Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
räusperte sich.
» Wollen wir?«, fragte er schließlich und reichte ihr Umhang und Schleier. Dann geleitete er sie hinaus ins Licht.
Schon nach wenigen Schritten fragte sie leise: » Wo ist es?«
» Das Grab?«
Mirijam nickte stumm.
Cornelisz führte sie vor die Mauern des Dorfes. Mirijam stolperte unbeholfen neben ihm her, so als sei sie blind, als sähe sie weder die Steine noch die Furchen auf dem Weg. Er musste sie stützen, bis sie zu dem steinigen Totenfeld kamen, auf dem die Verstorbenen in die Erde gebettet wurden. Der Wind zauste das dornige Gestrüpp, das dort wuchs. Lediglich einige größere Feldsteine markierten die schmucklosen Ruhestätten. An einem frisch aufgeworfenen Hügel blieb Cornelisz wortlos stehen. Mirijam sank auf die Knie, legte ihre Hände auf den rissigen Boden und strich zärtlich darüber. Sie wiegte sich vor und zurück und weinte beinahe lautlos.
Wie zart sie wirkte, wie hilflos und verloren. In ihm breitete sich plötzlich ein ungewohntes Gefühl von Stärke aus. Das verwirrte ihn, und er hätte nicht sagen können, ob es ihm gefiel. Bei anderen imponierten ihm Überblick und klares Denken durchaus, bei sich selbst aber? Er kannte sich seit langem eher als unsicher, orientierungslos …
» So, für heute ist es genug«, bestimmte er nach einer Weile und zog Mirijam wieder auf die Füße. Mit einem Zipfel ihres Schleiers wischte er die Tränenspuren von ihrem Gesicht. » Beinahe wie früher«, lächelte er. » Weißt du eigentlich, wie oft ich dir schon aufgeholfen habe? Eigentlich immer, wenn wir gemeinsam ausritten und dein Pony dich mal wieder abwarf.«
Als habe sich mit dem Gang zum Grab des Hakim s ein Bann gelöst, schälte sich Mirijam in den folgenden Tagen langsam aus ihrer Trauer. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Mogador – wie viel Zeit mochte wohl seither vergangen sein?, fragte sie sich müde – suchte sie den kleinen Hamam auf. Danach aß sie eine Handvoll Datteln und labte sich an gewürztem Tee, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel, behütet von Cadidja und auch von Cornelisz, der sich in einem windschiefen Verschlag vor der Tür ein Lager bereitet hatte.
Täglich unternahm sie einen Spaziergang mit Cornelisz. In der Regel bestimmte er das Gespräch während dieser kleinen Unternehmungen, und das war ihr sehr angenehm. Sie überließ sich der Sprache und den vertrauten Worten der Kindheit und fühlte sich vom Klang seiner Stimme getröstet.
In der Nacht aber kamen die Schatten, beunruhigende, absurde und verängstigende Gedanken, keine Überlegungen und schon gar nicht irgendwelche Planungen, sondern eher konfuse Bruchstücke und alptraumhafte Ideen. Ihre einzigen Vertrauten hatten sie verlassen, ging es ihr durch den Sinn, ihr Abu ebenso wie Miguel … Und obwohl es unvorstellbar schien, existierte die Welt dennoch weiter. Wie war das möglich, wie konnte sie weiterleben, als sei nichts geschehen?
Cornelisz hatte vom Untergang des Schiffes damals erzählt. So etwas konnte jederzeit geschehen, selbst ein guter Kapitän wie Miguel war nicht davor gefeit … Inzwischen war seit seiner Abreise mehr als ein halbes Jahr vergangen, war das nicht viel zu viel Zeit? Ob er jemals wiederkommen würde? Was sollte sie ohne ihn tun, wohin sich wenden? Zum Glück war Cornelisz bei ihr, stand ihr zur Seite, tröstete sie … Er war wie ein helles Licht in dunkler Zeit.
Manchmal erzählte Cornelisz von früher, von Antwerpen und von ihrem Vater Andrees und Lucia. Wenn ihr dann die Tränen kamen, und sie kamen zuverlässig, schien es Mirijam, als beginne sie erst jetzt nach Jahren damit, um diese beiden Menschen zu trauern.
Nur einmal versuchte Cornelisz, sich nach ihren Erlebnissen zu erkundigen. » Wie war das mit Lucia? Und stimmt es eigentlich, was man sich seinerzeit in Antwerpen erzählte? Der berüchtigte Chair-ed-Din hat eure Schiffe aufgebracht und alle Seeleute in die Sklaverei geschickt?« Daran konnte sie jedoch nicht denken, ohne erneut das Entsetzen von damals zu spüren. Cornelisz nahm sie rasch in den Arm und fragte nicht weiter.
Das tat er häufig, wenn sie unbeobachtet waren: Er legte den Arm um sie und zog sie eng an sich. Gern überließ sie sich dann seiner Wärme, schmiegte sich an ihn und lauschte seinem Herzschlag. Manchmal spürte sie aber auch sein Zittern und fühlte, wie eine süße, verbotene Strömung nach ihr griff. Hing es mit dem Leuchten seiner Augen zusammen? Oder ging der Sog von seinem Lächeln, seiner weichen Stimme oder
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