Purpurschatten
gekämmt. Sein Aussehen war eher durchschnittlich – bis auf eine Kleinigkeit, die kaum jemand wahrnahm. Für Norbert jedoch hatte sie außerordentliche Bedeutung: Ihm fehlte der kleine Finger der rechten Hand.
In einem gewöhnlichen Menschenleben ist dieses Glied nicht von allzu großer Wichtigkeit, doch Norbert führte ein außergewöhnliches Leben; er war Ästhet und den schönen, harmonischen Dingen des Seins zugetan. Von Beruf war er Pianist, so daß der Unfall, den er vor einigen Jahren erlitten und der ihn neben ein paar Narben an Hals und Stirn den kleinen Finger gekostet hatte, sein Leben von Grund auf verändern sollte.
Seine Karriere als Konzertpianist war mit diesem Unfall natürlich beendet; seither schlug Norbert sich als Barpianist durchs Leben, als Meister der linken Hand und des rechten Ringfingers, der nun auch die Funktion des fehlenden kleinen übernahm.
In Norberts Seelenleben hatte der Verlust des kleinen Fingers beinahe noch größeren Schaden angerichtet, denn seit jenem Ereignis neigte er – im Unterschied zu früheren Zeiten – mehr dem eigenen als dem anderen Geschlecht zu. Er führte ein regelrechtes Doppelleben und war in den einschlägigen Lokalen um den Gärtnerplatz unter dem Namen ›Berta‹ bekannt und beliebt.
Was seine Verehrung für Juliette betraf war sie von platonischer Natur. Norbert hätte es nie gewagt, sich ihr in unlauterer Absicht zu nähern – ganz abgesehen davon, daß ihm ohnehin das Verlangen fehlte. Nein, Männer wie er schaffen sich mit Vorliebe ihre anbetungswürdigen, weiblichen Ikonen und bleiben ihnen ein Leben lang treu.
Ein solcher Mann war Norbert. Bisweilen kam er in der Galerie vorbei und schaute sich Bilder an, von denen er wußte, daß er sie sich niemals würde leisten können. Bei diesen Besuchen schüttete er Juliette häufig sein Herz aus, und sie übernahm die Rolle seiner besten Freundin.
Norbert wußte um ihre zerrüttete Ehe und kannte ihr leidenschaftliches Verhältnis zu Brodka; er stand auf dessen Seite, wenn es darum ging, sich zwischen Ehemann und Liebhaber zu entscheiden. Dabei war er Brodka nie begegnet, und auch Brodka kannte Norbert nur vom Hörensagen und wußte nichts von der tiefen inneren Bindung zwischen Juliette und dem Barpianisten.
Juliette verbrachte die ganze Nacht bei Norbert. Von Männern hatte sie fürs erste die Nase voll. Sie haßte Collin, und Brodka konnte ihr gestohlen bleiben.
In dieser Nacht reifte in Juliette der Plan, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Sie wolle damit beginnen, erklärte sie Norbert, ihre Galerie vor dem Konkurs zu retten. Deshalb müsse sie klären, wie sie in die Fänge der Kunstfälscher-Mafia geraten war.
Norbert äußerte heftige Bedenken gegen ihren Plan, den Weg der Bilder von Rom nach München zurückzuverfolgen. Doch Juliette ließ sich nicht beirren und buchte für den nächsten Tag einen Flug der Alitalia nach Rom.
Inzwischen war sie fast überzeugt davon, daß Alberto Fasolino ihr keine Fälschungen angedreht hatte. Fasolino genoß als Sammler einen integeren Ruf. Er hatte selbst des öfteren Bilder bei Juliette gekauft und korrekt und ohne zu feilschen bezahlt.
Für Juliette galt es also, jene Stelle ausfindig zu machen, an der die Bilder gegen Fälschungen ausgetauscht worden sein konnten. Zwar deutete einiges daraufhin, daß der Coup in ihrer Galerie stattgefunden hatte, aber woher wollte sie wissen, ob es nicht irgendwo zwischen Rom und München geschehen war. Sie mußte sichergehen.
Keine leichte Aufgabe.
Am Tag darauf landete Juliettes Maschine, eine McDonnell Douglas 80, nach anderthalbstündigem Flug um kurz nach zwölf in Rom Fiumicino. Von dort begab Juliette sich geradewegs zum Hotel Excelsior an der Via Véneto.
Das Zimmer zur Straße war laut, doch hinter den schweren Vorhängen aus grünem Damast bot es den schönsten Blick, den man auf das bunte Treiben dieser Straße haben konnte. Gewiß, die Via Véneto hatte seit Fellinis ›La dolce vita‹ viel von ihrem einstigen Charme verloren, aber im Vergleich zu anderen berühmten Straßen mit großen Namen ging von ihr noch immer ein gewisser Reiz aus, vor allem aber von den Menschen, die sie bevölkerten.
In einer der zahlreichen Boutiquen kaufte Juliette ein Frühjahrskostüm, lindgrün und zweireihig geschnitten; in einem Geschäft nur ein paar Schritte weiter erwarb sie ein Paar schwarze Schuhe. Beides hob ihre Stimmung deutlich. Dann rief sie Alberto Fasolino an und teilte ihm mit, daß
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