Pusteblume
gebrochen und es wäre ein Notfall.« Und obwohl es hin und wieder zu später Stunde zu einem Handgemenge gekommen war, konnte Cindy ihr Versprechen halten.
Amy kam gerade aus dem Büro und machte sich auf einen weiteren Abend gefaßt, an dem sie Lorcan nicht anrufen würde, als sich ihr in der Halle ein Anblick bot, bei dem sie ins Stolpern geriet. Lorcan. Groß und kühn, den Ellbogen an die Wand gestützt, den Arm über den Kopf gelegt. Sein Jackett stand offen und gewährte einen Blick auf seinen flachen Bauch, seine breite Brust. Oh, das süße Gefühl der Freude, als sie merkte, daß nicht alles verloren war.
Lorcan verharrte in der Pose und zählte bis fünf, bis die Kamera, so stellte er sich vor, auf ihn gerichtet war. Dann lächelte er mit perfektem Zeitgefühl, sein Gesicht füllte die Leinwand aus, und Amy war geblendet. Jetzt kam der Kamerawechsel, Amys schlanker Rücken wurde sichtbar, während sie sich wie im Traum auf ihn zubewegte. Kein Zweifel, sie konnte ihm nicht widerstehen. Schnitt zu Lorcans Augen, die liebevoll auf Amy gerichtet waren, auf ihr ihm zugewandtes Gesicht. Gleich war es soweit, daß er seinen Text sagen konnte –
aber warte, warte noch einen Moment,
sagte der imaginäre Regisseur. Und … jetzt!
»Süße, hast du mich vermißt?« fragte Lorcan mit genau dem richtigen Maß des leichten Spotts. Darauf folgte Amys stummer Blick und ein zärtliches kleines Lachen von ihm. Die Kamera entfernte sich und zeigte Lorcan, der Amys Kopf mit seinen großen Händen umfaßte und sie an sich zog. Dann eine Einstellung von Amys Gesicht, die Augen geschlossen, der Ausdruck entrückt, als sie den Geruch seiner Wildlederjacke wahrnahm und seinen harten Schenkel spürte, der sich zwischen ihre Beine drängte.
Dann lehnte Lorcan sich aus der Umarmung zurück und fuhr sacht mit dem Finger über Amys Mund, langsam, mit ehrfürchtigem Staunen. Wunderschön, dachte er. Eine wunderschöne
Geste,
meinte er damit. Und wieder zog er sie ganz dicht an sich heran, während in seinem Kopf sentimentale Musik erklang und der Abspann kam.
Tara, die auf dem Weg ins Krankenhaus an den beiden vorbeikam, war sowohl gerührt als auch neidisch. Es war eine der schönsten Szenen, die sie je gesehen hatte. Der große, attraktive Mann, der die zerbrechliche Schöne mit großer Zärtlichkeit hielt.
Später schilderte sie die Szene den Versammelten um Fintans Bett und meinte: »Wie eine Szene aus einem Film.«
35
F intan sollte die Ergebnisse der Knochenmarkbiopsie, der Röntgenaufnahmen und der Computertomographie am Freitagnachmittag bekommen. Bis dahin mußten Tara, Katherine, Sandro, Liv und die O’Gradys in Ungewißheit leben. In ihrer Zeitrechnung hörte die Welt am Freitagnachmittag auf. Danach konnte nichts mehr von Bedeutung passieren.
Irgendwie hatten sie sich davon überzeugt, daß der Krebs in seinen Lymphknoten kaum Anlaß zur Sorge war und daß Fintan so gut wie geheilt war, wenn es keine Anzeichen für Krebs im Zwerchfell, dem Knochenmark und den inneren Organen gab.
Sie verwendeten ihre ganze Energie auf das Warten. Während Angst und Hoffnung miteinander im Widerstreit standen und mal die eine, mal die andere die Oberhand hatte, wurden Schlaf-und Eßgewohnheiten, Konzentrationsvermögen, Geduld und die Fähigkeit, sich zwischen einem Sandwich mit Käse oder einem mit Schinken zu entscheiden, auf eine harte Probe gestellt. In der Zwischenzeit lasen sie alles, was sie über das HodgkinSyndrom finden konnten, und kauften jedes Buch über alternative Heilmethoden, das ihnen in die Hände kam.
Fintans Freunde und Kollegen kamen in solchen Mengen zur Besuchszeit, daß Fintan mit einiger Bitterkeit bemerkte: »Die kommen nur, weil sie wissen wollen, ob ich Aids habe.« Aber auch nachdem es klar war, daß er kein Aids hatte, war er jeden Abend von freundlichen Besucherscharen umgeben. Und der innere Kreis der Freunde und Familie hielt praktisch rund um die Uhr Wache an seinem Bett, wobei JaneAnn und Sandro sich dabei abwechselten, Fintans Hand zu halten.
Am Mittwoch, dem ersten Tag der O’Gradys in London, fuhr Tara sie und Katherine ins Krankenhaus. Sandro und Liv saßen schon an Fintans Bett. »Guten Morgen«, sagte Tara mit betont fröhlicher Stimme zu Fintan.
»Was ist daran gut?« fragte Fintan mißgestimmt und warf sich in die Kissen.
Die Stimmung der Anwesenden sank im Nu, und alle gingen auf Zehenspitzen herum und stellten Fintan die Fragen, die Krankenhausbesucher immer stellen. »Hast du gut
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