Pusteblume
nicht vorstellen, wie die Leute mit Bulimie es machten. Sie hatte vollste Hochachtung vor ihnen. Vielleicht gab es einen Trick, den sie nicht kannte.
17
A ls Tara wieder im Büro war, ging sie auf die Toilette, um eine zu rauchen. Dort traf sie Amy Jones, die ein Stockwerk höher in der Auftragsabteilung arbeitete. Bis zum letzten Freitag hatten sie sich immer nur zugenickt, doch dann stellten sie fest, daß sie am gleichen Tag Geburtstag hatten. Beide waren im Pub gewesen und hatten mit den Kollegen ihrer jeweiligen Abteilung gefeiert. Zwar kannten sich die beiden Gruppen untereinander nicht so gut, daß aus den zwei Feiern eine Party geworden wäre, aber die beiden Frauen hatten sich zugelächelt und einander zugeprostet.
Am Freitag, nach vier Gin Tonics, hatte Tara gedacht, daß Amy sehr nett sei, aber jetzt, während sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette nahm und zusah, wie Amy ihr langes, rötlichblondes, gelocktes Haar kämmte, beschloß sie, Amy zu hassen. Vielleicht war sie ein netter Mensch, aber mit all dem wunderbaren Haar und der groß gewachsenen, schlanken Figur hatte sie bisher wohl kaum die Härten des Lebens kennengelernt. Wie konnten zwei Menschen, die am gleichen Tag Geburtstag hatten, so unterschiedlich aussehen?
»Schönen Geburtstag gehabt?« fragte Tara höflich. Sie hielt das für opportun, weil Amy sonst erraten könnte, daß Tara sie haßte, weil sie dünn war und so schön gelocktes Haar hatte.
»Hhmm, ging so«, sagte Amy mit einem schiefen Lächeln. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Anscheinend hatte sie ein anstrengendes Wochenende hinter sich. »Nur daß ich«, sagte Amy mit einer Stimme, die plötzlich sehr stockend und schrill war, »… daß ich … daß ich … mich mit meinem Freund gestritten habe und … ohh … verhaftet wurde.«
Eine Sturzflut von Tränen ergoß sich über Amys vollkommene weiße Haut, als sie die ganze Geschichte ihrer Geburtstagsparty erzählte: daß ihr Freund nicht aufkreuzte, wie peinlich das war, daß er schließlich doch kam und sich ein Sandwich grabschte, daß sie ihn rausgeschmissen hatte, und die höllischen Stunden, die folgten, die unendlichen Anrufe, daß sie das längste Wochenende in der Geschichte hinter sich hatte, ihre hysterische Verzweiflung, der Anruf bei der Polizei … Tara versuchte, ihren befremdeten Ausdruck in eine tröstliche Miene umzuwandeln, und sagte beschwichtigende Dinge wie: »Es war doch nur ein Streit … Du weißt doch, wie die Männer sind, er braucht nur ein bißchen Zeit, seine miese Laune zu überwinden … Vielleicht solltest du ihn ein paar Tage in Ruhe lassen … Ja, ich weiß auch, wie schwer das ist, das kannst du mir glauben … Später, wenn ihr darauf zurückblickt, könnt ihr beide lachen … Wahrscheinlich schmiedet es euch enger zusammen … Männer, nicht zum Aushalten … Darf ich mal kurz fragen, was ›auf Kaution freigelassen‹ bedeutet, nur so, aus Neugier?«
Als Tara wieder in ihrem Büro war, hatte sie das dringende Bedürfnis, Thomas anzurufen. Normalerweise wollte sie ihn nicht vom Büro aus anrufen, weil er dann aus dem Unterricht geholt werden mußte. Außerdem war es in dem Großraumbüro unmöglich, eine private Unterhaltung zu führen. Besonders Ravi interessierte sich sehr für ihr Leben. Aber weil sie Angst hatte, daß die Dinge zwischen ihr und Thomas in eine Schieflage geraten waren, brauchte sie dringend Rückversicherung. Sie wollte wissen, ob sie sich seine Feindseligkeit am Telefon eingebildet hatte.
Doch als sie sich dazu überwunden hatte anzurufen, weigerte sich Lulu, die Schulsekretärin, Thomas aus dem Unterricht zu holen.
Sie tat immer so, als gehörte er ihr. »Ich sage Mr. Holmes, daß Sie angerufen haben«, log sie.
»Dumme Kuh«, murmelte Tara unterdrückt und legte den Hörer auf.
»Wer? Lulu?« brüllte Ravi.
»Wer sonst?« sagte Tara. Ein paar Minuten tröstete sie sich damit, daß sie wenigstens nicht die Polypen auf Thomas gehetzt hatte. Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer den Rücken herunter. Das würde er ihr nie verzeihen. Da sie immer noch bedrückt war, wollte sie Liv ihr Herz ausschütten. Sie erreichte den Anrufbeantworter und versuchte es mit dem Mobiltelefon.
»Hallo«, sagte Liv.
»Ich bin’s. Hast du gerade viel zu tun?«
»Ich bin in Hampshire mit einer Frau, die alles in ihrem Haus golden haben will«, jammerte Liv.
»Igitt. Meinst du Wasserhähne und Türgriffe?«
»Nein, ich meine Küchenschränke und Gartenschuppen.«
»Ach du
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