Pusteblume
Hunger ist mein allerbester Freund.
Sie hatte schlecht geschlafen und war mitten in der Nacht panikerfüllt aufgewacht. Wenn Thomas aufhörte, sie zu heben, wenn er sie nicht mehr wollte? Wenn er am Samstagabend plötzlich erkannt hatte, daß er nicht mehr mit ihr zusammensein wollte?
Was würde dann aus ihr? Inzwischen war sie einunddreißig, und es war wirklich zu spät, um noch einmal von vorn anzufangen. Als Alasdair mit ihr Schluß gemacht hatte, war sie am Boden zerstört gewesen, aber damals war sie erst neunundzwanzig und begriff gar nicht, wie gut sie es eigentlich hatte. Alleinstehende Männer zwischen dreißig und vierzig waren wie weiße Raben: Jahre konnten vergehen, bevor sie einen anderen Mann kennenlernte. Und wenn sie einem begegnete, mußte sie mindestens ein Jahr lang so tun, als wäre es ihr nicht ernst. Bis dahin wäre sie schon vier-oder fünfunddreißig. Oh, nein! Das war uralt. Als Tara aufstand und sich anzog, war sie froh, daß Thomas schon zur Arbeit gegangen war. Wenn er sie sähe, wie sie sich in ihre zu engen Kleider zwängte, wäre er nur wieder sauer. Trotz des kalten Morgens geriet sie ins Schwitzen und versuchte mit feuchten Fingern den Knopf an ihrem Rock zuzumachen.
Seit einiger Zeit trug sie Größe zweiundvierzig, aber das war als vorübergehende Maßnahme gedacht, bis sie abgenommen hatte und wieder in Größe vierzig paßte. Und auch das sollte nicht für immer sein, denn wenn sie ihr richtiges Gewicht und ihre eigentliche Figur wiedererlangt hatte, würde sie Größe achtunddreißig tragen. Aber im Moment kniff sie der Bund ihres Rockes so sehr, daß ihre inneren Organe regelrecht gequetscht wurden, und widerwillig nahm sie die Tatsache zur Kenntnis, daß sie besser ein paar Sachen in Größe vierundvierzig kaufen sollte – damit sie wieder richtig durchatmen konnte. Es sollte keine Dauerlösung sein. Nur so lange, bis sie genug abgenommen hatte, und dann könnte sie wieder Größe zweiundvierzig tragen.
Aber Größe vierundvierzig, dachte sie entsetzt, soweit war es mit ihr schon gekommen. Vierundvierzig! Danach kam sechsundvierzig, dann achtundvierzig. Wo sollte das nur enden?
Als sie sich die Jacke zuknöpfte, war sie völlig durchgeschwitzt und so erschöpft, daß sie am liebsten wieder ins Bett gegangen wäre. Sie haßte ihren Körper. Sie verabscheute ihn zutiefst! Sie schleppte diese ganzen Fettmassen mit sich herum und hatte das Gefühl, daß sie ein Fremdkörper waren. Eigentlich waren sie das auch, sagte sie sich. Sie waren ungeladen gekommen und zu lange geblieben. Ihre Tage waren gezählt.
Sie zwang sich zu einem Blick in den Spiegel, bevor sie ging. Zugegeben, sie sah furchtbar aus. Ihr elegantes Jackett spannte, es saß wie eine Pelle, und am Ende der Knopfleiste sprang es auf, so daß die runde Kugel ihres Bauches sichtbar wurde.
Ich bin dick, erkannte sie in kaltem Schrecken. Ich bin echt dick, nicht übergewichtig oder rundlich oder gut gepolstert. Ich bin dick. Ohne Wenn und Aber.
In kürzester Zeit würde sie zu den Ausgegrenzten gehören. Ich komme dann nicht mehr die Treppen hoch oder in den Bus. Im Flugzeug werde ich einen Zuschlag bezahlen müssen, weil ich einen zu fetten Arsch habe. Kleine Jungen werden mit Steinen nach mir werfen. Und wenn ich bei Freunden zum Essen eingeladen werde, brechen unter mir die Stühle zusammen. Ich werde zurückgestuft, weil alle wissen, daß dünne Menschen besser arbeiten können als dicke. Wenn ich im Auto sitze, werde ich ohne Flaschenzug nicht wieder rauskommen. Alle Welt wird denken, daß ich eine Versagerin bin, denn Übergewicht ist ein deutliches Zeichen von großer Unzufriedenheit. Dann werde ich lügen und den Leuten erzählen, ich hätte Probleme mit den Drüsen.
Ich bin wertlos, sagte sie sich. Ich schäme mich so. Aus dem Augenwinkel sah sie die schlanke, geschmeidige Beryl, die ihr einen Blick zuwarf, als wollte sie sagen: Ich kann essen, was ich will, und nehme kein Gramm zu. Tara hätte ihr am liebsten einen Tritt versetzt. Sehr widerwillig verließ Tara die Wohnung. So sehr verabscheute sie sich, daß sie fast erwartete, die Leute würden hupen, sich aus ihren Autos lehnen und rufen: »Guckt sie euch an, die Dicke!« Aber es regnete in Strömen, und dafür war Tara dankbar. Die Menschen nahmen weniger Notiz voneinander, wenn es regnete. Tara hatte einen knallig orangefarbenen, lauten, gebraucht gekauften Volkswagen, der mit vielen Fehlzündungen loszuckelte. Er war eine Müllkippe auf Rädern,
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