Qiu Xiaolong
nicht ohne Schuld an ihrem Untergang.
Ähnlich war es ihm ergangen. Aus dem Studenten, der von einer literarischen Karriere geträumt hatte, war der Oberinspektor Chen geworden. Eine Erkenntnis, die ihn frösteln machte.
Keine Entscheidung zu treffen, war auch eine Entscheidung.
Guan hätte den Ingenieur Guan oder einen anderen Mann heiraten können. Eine gewöhnliche Hausfrau wäre sie gewesen, die auf dem Lebensmittelmarkt um ein paar grüne Zwiebeln feilschte, morgens die Jackettaschen ihres Mannes durchwühlte, sich in der Gemeinschaftsküche einen Platz am Herd erkämpfte … Aber lebendig, mehr schlecht als recht zwar, wie alle anderen, aber lebendig. Die Politik hatte ein solches Leben unmöglich gemacht. Ein gewöhnlicher Mann wäre für sie, bei all den Ehrungen, mit denen sie überhäuft wurde, nicht in Betracht gekommen, hätte weder ihrem Status noch ihrem Ehrgeiz genügt. Es gab keine Möglichkeit für sie, vom Podest herabzusteigen, um einen Mann an der Bushaltestelle aufzugabeln oder mit einem Unbekannten im Cafe zu flirten. Andererseits: Welcher Mann hätte sich wirklich eine Parteigenossin zur Frau gewünscht, die ihm zu Hause politische Vorträge hielt – womöglich noch im Bett?
Und dann war sie Wu Xiaoming über den Weg gelaufen. Mit ihm glaubte sie die Antwort zu haben. Auch hegte sie die Hoffnung, durch die Beziehung zu ihm mit der Macht in Kontakt zu bleiben. In der Politik hätte eine solche Verbindung funktionieren können: Ein Musterpaar in der Tradition der orthodoxen sozialistischen Propaganda. Liebe auf der Basis gemeinsamer kommunistischer Ideale. So schien ihr in der Verbindung mit Wu die letzte Chance für ihr persönliches Glück – und für ihren politischen Ehrgeiz zu liegen.
Das einzige Problem war, daß Wu schon verheiratet war und daß er sich um keinen Preis scheiden lassen wollte, um Guan zu heiraten.
Diese Entscheidung Wus mußte sie tief verletzt haben – die Größe ihres Schmerzes entsprach der Tiefe ihrer Leidenschaft. Sie hatte ihm alles gegeben – so mußte sie es jedenfalls empfunden haben. Als nichts mehr half, hatte sie versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und sich auf Erpressung verlegt. Manche Menschen kämpfen mit allen Mitteln, lauteren wie unlauteren, um ihre Haut zu retten. Oberinspektor Chen konnte das gut verstehen.
Oder war es denkbar – grübelte Chen –, daß Wu in ihr zuletzt eine Leidenschaft geweckt hatte, die ihr bis dahin unbekannt gewesen war? Und daß sie ihr verfallen war, weil sie nicht gelernt hatte, mit ihr umzugehen? Einmal daran gewöhnt, eine Maske zu tragen, hatte Guan die Maske als ihre wahre Identität entdeckt. Sie wußte, wie politisch unkorrekt es war, sich in einen verheirateten Mann zu verlieben, aber ebendies war aus ihr geworden: eine hilflose Frau, keuchend hinter ihrer Maske, gefesselt an Händen und an Füßen. War sie zum erstenmal von einer dunklen Leidenschaft überwältigt worden, die ihrem Leben einen neuen Sinn gab und die sie um keinen Preis mehr missen wollte?
Oberinspektor Chen neigte mehr diesem zweiten Szenario zu: Guan Hongying, die nationale Modellarbeiterin, war ein Opfer ihrer eigenen Leidenschaft geworden.
Wo die Wahrheit lag, würde er wohl niemals herausfinden.
37
OBERINSPEKTOR CHEN versprach sich nicht viel von dem Gespräch mit Parteisekretär Li, aber er konnte es sich auch nicht leisten, länger zu warten.
Neues Beweismaterial hin oder her, es bestand kaum Hoffnung, die Ermittlungen voranzutreiben; denn angesichts des Parteiinteresses konnten sogar diese neuen Fotos als Belanglosigkeiten vom Tisch gewischt werden. Wenn dies bedeutete, daß seine Tage bei der Polizei gezählt waren, war er bereit, das in Kauf zu nehmen. Er würde kein Bedauern und keine Bitterkeit empfinden. Er hatte als Polizist nach bestem Vermögen gedient, und als Parteimitglied auch. Wenn er dazu nicht mehr in der Lage war, würde er gehen.
Vielleicht war es ja an der Zeit, ein neues Kapitel zu beginnen.
Aber als erstes mußte er das Gespräch mit Parteisekretär Li hinter sich bringen.
Li erhob sich von seinem Platz und begrüßte Chen herzlich. »Kommen Sie herein, Genosse Oberinspektor Chen.«
»Ich bin seit der Betreuung unserer amerikanischen Gäste etwa eine Woche wieder im Dienst, Genosse Parteisekretär«, sagte Chen. »Ich muß mit Ihnen über meine Arbeit sprechen.«
»Ich habe auch etwas mit Ihnen zu besprechen.«
»Ich hoffe, es geht um den Fall Guan Hongying.«
»Sie arbeiten
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