Qiu Xiaolong
immer noch an dem Fall?«
»Ich bin immer noch Leiter der Sondergruppe, und ich kann nichts Unrechtes dabei finden, wenn ich weiter meine Arbeit tue. Jedenfalls so lange nicht, wie meine Suspendierung nicht offiziell bekanntgegeben wird.«
»Sie müssen nicht in diesem Ton mit mir reden, Genosse Oberinspektor.«
»Ich wollte nicht unehrerbietig sein, Genosse Parteisekretär Li.«
»Na schön. – Fahren Sie fort, erzählen Sie von Ihren Ermittlungen.«
»Als wir uns zuletzt sprachen, haben Sie noch einmal die Wichtigkeit von Wus Motiv betont. Das war ein guter Hinweis. Das Motiv fehlte uns bisher, aber wir haben es jetzt gefunden.«
»Und das wäre?«
Chen zog mehrere Fotos aus einem Umschlag hervor.
»Bilder von Guan und Wu – zusammen im Bett. Aber auch von Wu mit anderen Frauen. Die Fotos waren in Guans Zimmer auf der Rückseite eines Porträts des Genossen Deng Xiao-ping versteckt.«
»Unglaublich!« Dem Parteisekretär entrang sich ein gequälter Seufzer, aber das war auch alles, was er zu sagen hatte.
»Guan ist in den Besitz dieser Bilder gelangt – irgendwie. Dann muß sie sie dazu benutzt haben, um Wu zu erpressen, damit er sich von seiner Frau scheiden ließ. Der Zeitpunkt hätte für Wu nicht unglücklicher sein können. Er steht an der Spitze einer Kandidatenliste für den Posten des stellvertretenden Kulturministers von Shanghai. In einer so entscheidenden Situation konnte er nicht zulassen, daß ihm irgend jemand seine Chancen beschnitt.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Li.
»Das für die Beförderung zuständige Kommissionsmitglied ist zufällig ein alter Weggefährte von Wus verstorbenem Schwiegervater, und seine Schwiegermutter ist noch in der Zentralen Disziplinarkommission der Partei tätig. Er hatte also keine Wahl. Er konnte sich eine Scheidung nicht leisten.«
»Ich muß zugeben, daß Ihre Analyse mir einleuchtet«, sagte Li und legte die Bilder wieder in den Umschlag. »Trotz allem: Wu Xiaoming hat doch ein hieb- und stichfestes Alibi, oder nicht?«
»Wus Alibi hat ihm sein Busenfreund Guo Qiang verschafft, um ihm aus der Patsche zu helfen.«
»Mag sein, aber Alibi ist Alibi. Wie wollen Sie das widerlegen?«
»Wir werden Guo vorladen«, erwiderte Chen, »und ihn dazu bringen, die Wahrheit zu sagen. In dieser Phase der Ermittlungen ist auch ein Durchsuchungsbefehl gerechtfertigt; vielleicht finden wir in Wus Wohnung weiteres Beweismaterial.«
»Unter normalen Umständen sind das mögliche Optionen, gewiß. Aber beim gegenwärtigen politischen Klima kommt das alles überhaupt nicht in Frage.«
»Wir können also gar nichts tun?«
»Sie haben schon sehr viel getan, Genosse Oberinspektor«, sagte Li. »Nur, die Situation ist im Augenblick äußerst kompliziert. Aber natürlich heißt das nicht, daß wir gar nichts tun könnten. Nur müssen wir behutsam vorgehen. Ich werde die Angelegenheit mit einigen Leuten diskutieren.«
»Ja, diskutieren, das tun wir die ganze Zeit!« entfuhr es Chen. »Aber in diesem Augenblick beantragt Wu ein Ausreisevisum für die USA.«
»Ist das wahr?«
»Jawohl«, sagte Chen. »Wu wird über alle Berge sein, während wir noch diskutieren und diskutieren.«
»Nein, Genosse Oberinspektor«, sagte Li bedächtig, »wenn er schuldig ist, wird er das nicht. – Aber zunächst einmal möchte ich mit Ihnen über etwas anderes sprechen. Es geht um Ihr neues Aufgabengebiet.«
»Mein neues Aufgabengebiet?!«
»Gestern gab es eine Krisensitzung in der Stadtregierung. Über die Verkehrsproblematik in Shanghai. Der Verkehr ist eine der größten Alltagssorgen unserer Menschen, wie der Genosse Deng Xiaoping hervorgehoben hat. Heutzutage, wo immer mehr Menschen Autos haben, wo an allen Ecken und Enden gebaut wird und Straßen gesperrt sind, wird die Verkehrssituation zu einem ernsthaften Problem. Genosse Jia Wei, der Direktor des Städtischen Verkehrskontrollamtes von Shanghai, ist schon seit längerem krank. Wir müssen diesen Posten mit einer energischen, jungen Kraft besetzen. Daher habe ich Sie empfohlen.«
»Mich?«
»Ja. Und alle haben mir beigepflichtet. Sie sind vorübergehend zum amtierenden Direktor des Städtischen Verkehrskontrollamtes ernannt worden. Das ist eine wichtige Position. Sie werden mehrere hundert Leute unter sich haben.«
Chen war konsterniert. Allem Anschein nach handelte es sich wirklich um eine Beförderung. Auf einen Posten, der weit über dem Niveau eines Oberinspektors lag. Normalerweise hätte man einen Kader des
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