Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
die merkwürdige Furcht, etwas Wichtiges zu
verpassen, wenn sie jetzt starb, beherrschte sie, so hoffnungslos ihr Leben in
diesem Augenblick auch erscheinen mochte.
Lydia seufzte. »Hör auf, mit Devons
Kopf zu denken, Polly«, sagte sie. »Du hast einen eigenen Verstand, und er
würde dir sagen, was du zu tun hast, wenn du nur bereit wärst, zuzuhören.«
Polly starrte diese seltsame,
starke, schöne Frau an, die vor ihr stand, und fragte sich, woher all diese
ausgefallenen Ideen kommen mochten, die sie ständig äußerte. »Du könntest ihn
jetzt haben, Lydia«, meinte sie dann. »Devon ist frei, in den Augen Gottes und
der Menschen, und ich weiß, daß du ihn attraktiv findest.«
Lydia verschränkte die Arme. »Also
gut«, sagte sie in sanft herausforderndem Ton. »Wenn du Devon wirklich nicht
willst, dann besteig dieses Boot und fahr nach Seattle. Ich werde ihn schon zu
trösten wissen.«
Ein stechender Schmerz durchzuckte
Polly. Sie liebte Devon und war ziemlich sicher, daß er ihre Gefühle erwiderte,
obwohl seine Enttäuschung ihn blind dafür machte. Aber Lydia war eine schöne,
bezaubernde Frau, und Devon wünschte sich so verzweifelt ein Heim und eine
Familie, daß er bereit gewesen war, weit zu reisen, um eine Frau zu finden und
heimzubringen. Nach einer gewissen Zeit des Leidens würde er Lydia bemerken und
anfangen, ihr den Hof zu machen.
Tränen verschleierten Pollys dunkle
Augen. »Devon verdient es, glücklich zu sein, und du könntest ihm geben, was er
braucht«, sagte sie und hob entschlossen ihre Reisetasche auf.
Lydia berührte ihren Arm. »Wirst du
wenigstens schreiben'?« fragte sie ruhig.
Ihre Besorgnis war wie Balsam für
Pollys wundes Herz. Sie hätten so gute Freundinnen werden können, wenn alles
anders gekommen wäre. »Ja«, erwiderte sie und wandte sich hastig ab, um ihnen
einen tränenreichen Abschied zu ersparen, und betrat über die schmale Planke
das Boot.
Lydia fühlte sich verwaist, als sie den
Rückweg zum Haus antrat. Sie wußte, daß sie Devon vermutlich als Ehemann
gewinnen konnte, wenn sie abwartete, bis seine Wunden heilten, und ihm dann
sanften Trost spendete. Das Problem war nur, daß ihr ursprüngliches Interesse
an ihm sich in schwesterliche Zuneigung verwandelt hatte. Es war Brigham, der
ihr Blut in Wallung brachte; Brigham, der ihren Kampfgeist wieder erweckt
hatte.
Die Tatsache, daß der gebieterische
Mister Quade so gar nicht ihrem Geschmack entsprach, war dabei nicht von Bedeutung.
Auf der Hälfte des Wegs begegnete
sie Millie, die, Hühnerfedern im Haar und bemalt wie ein Indianer auf dem
Kriegspfad, hinter einem Busch hervorsprang.
Wie von ihr erwartet wurde, stieß
Lydia einen entsetzten Schrei aus.
»Ich bin eine Wilde«, verkündete
Millie stolz.
Lydia lachte und zog das Mädchen an
sich. »Ich glaube, viele Leute würden dir sicher zustimmen. Woher hast du die
Federn?«
»Aus dem Hühnerhaus. Sie liegen dort
überall herum.«
Lydia dachte an Läuse und andere
unangenehme Kreaturen und verzog das Gesicht. »Ich glaube, ein Bad würde dir
nicht schaden«, meinte sie und begann die Federn aus Millies Haar zu klauben.
»Wilde baden nicht«, behauptete
Millie, obwohl sie keine Einwände dagegen erhob, ihres Federschmucks beraubt zu
werden. »Jedenfalls nicht in Wasser.« Ihr hübsches, schmutziges Gesicht glühte.
»In Blut, vielleicht«, schlug sie vor. »Ich hörte Papa einmal sagen, daß einige
Indianerfrauen ihr Haar mit Urin und Fischöl waschen.«
Lydia war schockiert, aber um Millie
nicht zu weiteren Feststellungen ähnlicher Natur zu ermutigen, erwiderte sie
nichts darauf.
»Wo ist Charlotte?« erkundigte sie
sich statt dessen.
»Wer weiß?« entgegnete Millie
achselzuckend. »In Camelot oder in Sherwood Forest. Oder vielleicht in einem
Schloß in Spanien.«
Lydia lächelte. »Du bist sehr
frühreif für deine zehn Jahre«, sagte sie, als sie das Haus erreichten. »Woher
weißt du von all diesen Orten?«
Millie freute sich über ihr
Interesse. »Ich kann lesen«, erwiderte sie stolz. »Und Charlotte erzählt mir
viele Geschichten. Ihr Traum ist, eines Tages von einem gutaussehenden Scheich
entführt zu werden, und auf dem Rücken eines Kamels in die Wüste zu reiten.
Charlotte sagt, der Scheich würde sich so in sie verlieben, daß er ihr zuliebe
seinen Harem auflösen wird.«
Lydia errötete. In Neuengland wäre
einem jungen Mädchen nicht gestattet worden, solch skandalöse Ideen zu
entwickeln. »Du lieber Himmel«, sagte sie. »Was
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