Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
Gott ihn gestern erst erschaffen.«
»Ja, das stimmt«, gab Lydia ihm
geistesabwesend Recht. »Wie geht es Devon heute morgen? Haben Sie ihn schon
gesehen?«
Joseph lächelte nachsichtig.
»Natürlich habe ich ihn gesehen, schließlich ist er mein einziger Patient. Er
hat das Bewußtsein noch nicht zurückerlangt und muß große Schmerzen haben, aber
er besitzt einen starken Willen, und ich bezweifle nicht, daß er seine
Verletzungen überleben wird. Obwohl die Gefahr besteht, daß gewisse ...
Behinderungen zurückbleiben.«
Lydia spürte, wie sie erblaßte. »Soll
das heißen, daß er ein Krüppel bleiben wird?« flüsterte sie bestürzt. Sie
wußte, daß Devon lieber sterben würde, als ein Leben als Invalide zu führen.
Der Arzt tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Diese Entscheidung muß
er selber treffen — hier oben.«
Wieder ertönte ein schriller Pfiff,
und weil Lydia nicht verstand, was der Arzt ihr sagen wollte, richtete sie
ihre Aufmerksamkeit auf das einlaufende Postboot.
Als es am Kai vertäut und die Rampe
hinabgelassen worden war, stiegen mehrere Passagiere aus.
Der erste war ein Mann mit weißem,
wirr vom Kopf abstehendem Haar und einem dichten Bart. Er trug einen
schlichten schwarzen Anzug und einen runden Hut, aber seine Augen ließen ihn
alles andere als durchschnittlich erscheinen. Sie waren von einem leuchtenden,
hellen Grün und einem seltsamen Feuer erfüllt. Hinter ihm verließ eine große
Frau das Boot, mit groben Gesichtszügen, an deren abgetragenes, schäbiges Kleid
sich zwei kräftige Kinder festklammerten.
»Matthew Prophet«, stellte der
weißhaarige Mann sich Joseph und Lydia vor. »Ich bin hier, um das Wort Gottes
zu verkünden.«
»Herzlich willkommen«, sagte Joseph
warm und mit freundlicher Belustigung, als er die Hand des Predigers drückte.
Lydia ging an ihm vorbei, um die
Frau zu begrüßen, aber diese ignorierte Lydias ausgestreckte Hand und sagte:
»Mein Name ist Elly Collier — und das sind meine Söhne, Jessup und Samuel. Mein
Mann ist mit einer Indianerin durchgebrannt und hat uns mittellos
zurückgelassen. In Seattle hörte ich, daß es hier Arbeit geben soll.«
Ihres freimütigen Wesens wegen,
ihres Muts und ihrer Offenheit war Mrs. Collier Lydia auf Anhieb sympathisch.
»Ich bringe Sie zu Mister Quade«, bot sie ihr an.
»Ist er es, der hier die Leute
einstellt?« erkundigte sich Mrs. Collier scharf, ohne sich auch nur einen
Schritt vom Kai zu entfernen.
»Ja — ihm gehört hier sozusagen
alles«, erwiderte Lydia. Joseph kümmerte sich um Mister Prophet, und Charlotte
und Millie brachten Mrs. Colliers Söhne mühelos auf ihre Seite, indem sie ihnen
Schokoladenplätzchen versprachen. Lydia begleitete Elly zu Brighams Büro.
Als die Frauen das merkwürdige
Gebäude erreichten, das er im Inneren eines hohlen Baumstumpfes errichtet
hatte, trat er gerade vor die Tür. Fragend richtete sich sein Blick auf Lydia.
»Deinem Bruder geht es gut«,
versicherte sie ihm rasch, nahm Ellys kräftigen Arm und schob die Frau auf
Brigham zu. »Das ist Mrs. Collier. Sie sucht Arbeit — und falls du auch nur
einen Funken Intelligenz besitzt, Brig, wirst du sie einstellen.«
Zwölf
Stolz stand Elly Collier Brigham
gegenüber, eine robuste Frau in abgetragenen Kleidern und mit hellen blauen
Augen, die viel Leid gesehen hatten. »Ich bin eigentlich keine >Mrs.<,
sagte sie ganz offen. »Zach und ich haben nie vor einem Altar gestanden.«
Ihre Erklärung löste ein aufgeregtes
Murmeln unter den herumstehenden Arbeitern aus, und mehr als einer begann Elly
mit aufrichtigem Interesse zu mustern.
Lydias Blicke ruhten auf Brigham,
gespannt wartete sie seine Entscheidung über Ellys Schicksal ab. Als er
lächelte, hatte es die Wirkung von Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch
graue Regenwolken bahnten, und eine völlig unbegreifliche Eifersucht erfaßte
Lydia. Wie gern hätte sie ein solch kleines Zeichen seiner Anerkennung auch
einmal für sich gehabt!
»Wir könnten eine Waschfrau im Lager
gebrauchen«, sagte er.
Er hatte Lydia keinen zweiten Blick
gegönnt, und es war offensichtlich, daß er sie ganz bewußt ignorierte.
Wahrscheinlich verachtet er mich jetzt für alles, was gestern zwischen uns
vorgefallen ist, dachte sie betrübt. Immerhin habe ich zugelassen, daß er mich
auszog, und unter seinen Händen und seinen Lippen habe ich gestöhnt und mich
herumgeworfen wie eine liebestolle Hure ...
Heiße Röte stieg in ihr Gesicht, und
die Unterhaltung begann an
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