Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
ihre
blauen Augen blitzten von einem Gefühl, das sowohl Auflehnung wie auch Triumph
bedeuten konnte. Rafael hätte nicht sagen können, was es war, und es
interessierte ihn auch nicht besonders.
»Das dürfte ungemein langweilig
sein, für uns beide«, bemerkte sie mit einem nachlässigen kleinen
Schulterzucken und einem Seufzer. Doch ihrer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit
zum Trotz mied sie noch immer seinen Blick.
Rafael hoffte, daß seine Belustigung
nicht zu offensichtlich war, denn er spürte ihren Stolz und bewunderte sie
dafür. »Die meisten meiner Gäste klettern auch nicht auf baufällige Wehrgänge,
um sich die Landschaft anzusehen«, gab er zu bedenken und nutzte seinen
Vorteil, als er ihr Unbehagen sah. »Falls Ihr Vater gestern nacht hier gewesen
wäre«, erklärte er, »hätten Sie sich jetzt mit noch viel ärgeren
Schwierigkeiten abzufinden.«
Annie wandte rasch den Kopf ab, und
Rafael hätte am liebsten laut gelacht, aber er beherrschte sich natürlich. Als
sie ihn wieder ansah, funkelten ihre Augen vor unterdrücktem Zorn, doch bevor
sie sich eine scharfe Erwiderung ausdenken konnte, betrat sein jüngerer
Halbbruder, Lucian, den großen Saal.
Lucian sah Rafael ähnlich, aber er
war kleiner, zierlicher und besaß sehr zarte, aristokratische Gesichtszüge. Da
er trotz seiner zierlichen Statur in hervorragender körperlicher Verfassung
war, stellte er einen ernst zu nehmenden Fechtpartner dar, doch abgesehen
davon war er ziemlich nutzlos. Die Brüder waren praktisch Fremde, da Lucian in
einem anderen Teil Englands und bei anderen Pflegeeltern als Rafael
aufgewachsen war, und sie hatten kaum Gemeinsamkeiten. Meistens ignorierte
Rafael seinen Bruder, obwohl es auch Momente gab, in denen Lucian sich in
Schwierigkeiten brachte, aus denen ihn dann entweder Edmund Barrett oder Rafael
befreien mußten.
Trotz der langen Zeit fern von zu
Hause, die ihm dazu hätte dienen müssen, erwachsener zu werden, war der jüngere
St. James in vielen Dingen ebenso verwöhnt wie Phaedra, die in Bavia gelebt hatte,
verhätschelt und behütet von einer Schar von Kinderschwestern, Gouvernanten und
Mägden, bis sie alt genug gewesen war, das Schweizer Internat zu besuchen.
An jenem Morgen, als Lucian seinen
Teller füllte und dann zum Tisch kam, glaubte Rafael, ein fast raubtierhaftes
Funkeln in den Augen seines Bruders wahrzunehmen. Eine leise Gereiztheit
erfaßte ihn — was nichts Neues war, wenn es um diesen Stümper ging — als er
sah, wie Lucian Annie anlächelte wie ein junger Kavalier. Rafael nahm sich
vor, ihn später zurechtzuweisen, wenn nötig anhand von Drohungen, denn das
Mädchen wäre sicherer auf dem zerbröckelnden Wehrgang, als wenn sie Lucians
geübtem Charme erlegen wäre.
Lucian, der seinen Bruder vollkommen
ignorierte, nickte Annie zu, als er sich ihr gegenüber hinsetzte. »Ich freue
mich, daß Ihnen gestern nachts nichts zugestoßen ist, Miss Trevarren.
Tatsächlich sind Sie so schön wie eh und je — vielleicht sogar noch schöner,
aus lauter Freude, überlebt zu haben.«
Rafaels Ärger nahm zu bei diesen
Worten und verdoppelte sich, als Annie, die kleine Närrin, Lucian ein strahlendes
Lächeln schenkte. »Danke«, sagte sie geziert.
Der Prinz legte seine Serviette
beiseite, und sein Stuhl verursachte ein schabendes Geräusch auf dem
Steinboden, als er ihn zurückschob. »Kommen Sie, Miss Trevarren«, sagte er
knapp. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier herumzusitzen und Ihnen beim
Essen zuzuschauen.«
Zu Rafaels Entzücken errötete Annie
vom Ausschnitt ihres Spitzenmieders bis zu den Haarwurzeln. Bewußt langsam und
widerstrebend schob sie ihren Teller zurück, obwohl sie bisher kaum Interesse
für ihr Essen bewiesen hatte, und stand auf.
»Bitte entschuldigen Sie mich«,
sagte sie zu Lucian, in einem leisen, vertraulichen Ton, der Rafael aus der
Konversation auszuschließen schien. »Der Prinz hat befohlen, daß ich heute den
ganzen Tag in seiner Nähe bleiben muß.«
Lucians Ärger verriet sich klar in
seinem Blick; Rafael schaute emotionslos zu, wie sein Bruder seinen Zorn hinunterschluckte.
»Was soll das heißen?« fragte er mit kalter Höflichkeit. Als Rafael nichts
erwiderte, fügte er hinzu: »Ich verlange eine Erklärung!«
Rafael seufzte. »Tatsächlich? Wie
schade, daß du keine erhalten wirst.« Mit diesen Worten nahm er Annies Arm und
schob sie zur Tür, so schnell, daß sie sich beeilen mußte, um mit ihm Schritt
zu halten.
Lucian folgte ihnen nicht,
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