Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
von Ihnen geschrieben, sehr liebevoll zwar, aber
mit der Bemerkung, daß Sie der Schrecken aller Nonnen in diesem altehrwürdigen
Institut waren.«
Annie hoffte, daß die Hitze in ihren
Wangen sich nicht auf ihrer Haut abmalte. Wenn sie Phaedra wiedersah, würde sie
ihr einiges zu sagen haben über Freundschaft und Vertrauen. Denn schließlich
war Annie in ihren eigenen Briefen an ihre Familie niemals so treulos gewesen,
auch nur ein einziges der zahllosen Mißgeschicke der Prinzessin zu erwähnen!
Rafael und Annie stiegen die breite
Treppe hinunter und durchquerten schweigend die große Eingangshalle. Erst als
sie den Hof erreichten, wo Lucian bereits mit zwei Floretts wartete, sprach
Rafael wieder.
»Setzen Sie sich«, wies er Annie an,
»und rühren Sie sich nicht vom Fleck, bis ich Ihnen die Erlaubnis dazu gebe.«
»Also wirklich, Rafael«,
protestierte Lucian, bevor Annie etwas erwidern konnte. »Findest du nicht, daß
du ein bißchen zu streng mit ihr bist? Eines Tages werden die Bauern dich
wegen deiner Tyrannei auf die Guillotine schleppen, genau wie damals den armen
Ludwig von Frankreich.«
Rafael zog seinen grünen Samtrock
aus, unter dem er ein weites Baumwollhemd trug, wie Annies Vater sie bevorzugte.
Das Lächeln, das er seinem Bruder zuwarf, war alles andere als freundlich. »Es
ist mein Vorrecht, streng zu sein«, erklärte er. »Denn immerhin bin ich der
Prinz von Bavia. Und was aus mir wird, braucht glücklicherweise nicht deine
Sorge zu sein.«
Annie öffnete den Mund, um etwas zu
sagen, aber Lucian ließ ihr keine Gelegenheit dazu.
Er warf eins der Florette seinem
Bruder zu, der es geschickt auffing und mit einer raschen Handbewegung durch
die Luft wirbelte.
»Könnte es eine größere Freude für
das Volk geben, als wenn sein Prinz sich selbst ins Grab bringt, um dort zu
verrotten?« spottete Lucian mit einer angedeuteten Verbeugung. »Aber wer
bliebe dann noch übrig, um um unser einst so schönes Land zu trauern?«
Rafael erwiderte nichts, aber Annie
sah einen Muskel an seinem Kinn zucken.
Danach begaben sich die Fechter in
eine ihnen ureigene Welt, zu der sie keinen Zugang hatte, an einen
gewalttätigen, trügerischen Ort, wo Gesetze herrschten, die nur die beiden
Männer kannten. Wahrscheinlich hätte
sie sich jetzt unbemerkt entfernen können, doch eine grimmige Faszination und
ein bittersüßer Schmerz in ihrem Herzen fesselten sie an die marmorne Bank.
Das erste Klirren der Florette löste
eine Gänsehaut auf Annies Rücken aus, und sie hielt den Atem an, als der Zweikampf
von Minute zu Minute wilder wurde. Funken sprühten von den dünnen Klingen, und
sogar die Luft schien geladen mit der Spannung, doch der Kampf ging
unermüdlich weiter und fand kein Ende.
Zuerst schien ein Bruder die
Oberhand zu haben, dann der andere. Trotz seiner zierlichen Statur kämpfte
Lucian tapfer, parierte, stieß und drängte Rafael zurück, bis die Gartenmauer
keinen weiteren Rückzug gestattete.
Es war offensichtlich, daß mehr als
normale Rivalität zwischen den beiden Kämpfern herrschte, und das verblüffte
Annie ebensosehr, wie es sie erschreckte. Ihre Onkel im fernen Staate
Washington, die alle Sägewerksbesitzer waren, trugen ständig irgendwelche
Prügeleien untereinander aus es war eine Art Familiensport - aber die Kämpfe
waren immer gutmütiger Natur, begleitet von deftigen Beleidigungen und viel
Gelächter. Und Annies eigene Schwestern, Gabriella, Melissande, Elisabeth und
Christina, waren ebenfalls alle viel jünger als sie selbst, aber sie liebte
sie von Herzen, obwohl sie sie mit ihren Neckereien manchmal sehr verärgerten,
und doch bezweifelte sie nicht, daß sie sterben würde, um sie zu beschützen,
sollte es einmal nötig sein.
Rafael und Lucian hingegen haßten
sich, das war offensichtlich.
Das Gefecht setzte sich, wie Annie
schien, eine kleine Ewigkeit lang fort, und erst dann machte Rafael einen Ausfall,
und Lucians Florett flog klappernd auf die Steine des kleinen Wegs, der durch
den Garten führte.
Der Prinz keuchte schwer, sein Hemd
war feucht vor Schweiß, als er beobachtete, wie Lucian mit scharlachrotem
Gesicht seine Waffe aufhob.
Die reinste Mordlust stand in
Lucians Blick, als er sich, das
Florett in der Hand, aufrichtete und Rafael ansah. Ein eigenartiger Austausch
fand zwischen den beiden Brüdern statt, obwohl keiner von beiden sich bewegte
oder sprach; es war etwas so Unfaßbares und auf seine Weise ebenso
Gewalttätiges, wie es ihr Kampf gewesen war.
»Ein
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