Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
Lage gebracht hatte, sich als Braut ausgeben
zu müssen.
Annie stöhnte laut und schlug beide
Hände vors Gesicht.
Jemand berührte ihre Schulter.
»Alles in Ordnung, Miss?« fragte eine sanfte Stimme. Durch ihre Pflege der
Fieberkranken war Annie wohlgelitten in der Burg.
Sie hob den Kopf und erkannte Ellen,
eine von Kathleens Freundinnen. Beruhigend nickte sie ihr zu. Ich muß
schrecklich aussehen, dachte sie, denn alle schienen hier zu glauben, daß sie
sich am Rande des Zusammenbruchs befand.
»Sie braucht etwas Süßes«, meinte
die Köchin und legte einen der kleinen Zuckerkuchen auf Annies Teller. Er roch
ganz köstlich und war warm und süß genug, um selbst einen Büßer in einer
härenen Kutte zu verlocken. »Hier, Miss. Essen Sie das, dann gebe ich Ihnen
mehr. Es gibt nichts Besseres als Süßigkeiten, um dem Körper neue Kräfte zu
verleihen.«
Annie hegte ihre Zweifel an dem
medizinischen Wert von Zuckerkuchen, aber sie wollte bemuttert werden und aß
ihn deshalb auf. Bevor die Köchin sie jedoch dazu verlocken konnte, sich einen
weiteren zu nehmen, rebellierte Annies Magen. Eine Hand vor den Mund gepreßt,
stürzte sie aus der Küche und erbrach sich über einem Beet Prunkwinden, die
neben den Eingangsstufen wucherten.
Die Köchin, die gleiche mütterliche
Seele, die über die Palastküche in Morovia geherrscht hatte, erschien an ihrer
Seite wie ein korpulenter Engel, einen Becher kühles Wasser in der einen Hand
und einen weichen Lappen in der anderen. Sie berührte Annies Stirn und
seufzte.
»Es ist also nicht das Fieber«,
stellte sie kopfschüttelnd fest.
Annie spülte ihren Mund aus und
wischte ihr Gesicht ab. Ihre Haut war klamm, und ihre Knie zitterten. Als ihr
eine mögliche Erklärung dafür zu Bewußtsein kam, wurden ihre Augen groß vor
Verwunderung, und sie ließ sich kraftlos auf die Stufen sinken.
»Wann hatten Sie zuletzt Ihre
monatliche Regel?« erkundigte sich die Köchin flüsternd.
Annie erinnerte sich nicht an das
Datum — es stellte sich ohnehin nie regelmäßig bei ihr ein —, aber das war auch
nicht wichtig. Sie wußte sofort, daß sie Rafaels Kind unter dem Herzen trug,
und sowohl Jubel als auch Verzweiflung erfaßten sie bei der Erkenntnis.
Noch immer auf den Stufen sitzend,
beugte sie den Kopf, bis ihre Stirn die Knie berührte.
»Miss Trevarren?« fragte die Köchin
beunruhigt. »Soll ich jemanden nach Seiner Hoheit schicken?«
Anscheinend wußte bereits jeder in
dieser Burg, daß Annie und der Prinz ein Liebespaar waren. »Nein«, antwortete
sie, ohne den Kopf zu heben. »Und sprechen Sie bitte mit niemandem darüber.«
»Sie können sich darauf verlassen«,
versprach die Köchin ernst. »Niemand soll sagen können, daß Elnora Hayes eine
Klatschtante ist.«
Annie wußte nicht, ob sie der Frau
vertrauen konnte oder nicht. Ihre Gedanken und Emotionen befanden sich in einem
wüsten Aufruhr und waren schwer voneinander zu unterscheiden. »Lassen Sie mich
allein«, sagte sie. »Bitte. Es geht schon wieder.«
Mit sichtlichem Widerstreben kehrte
die Köchin in die Küche zurück, und Annie blieb mit gesenktem Kopf sitzen, bis
ihr Herzschlag sich beruhigt hatte und sie wieder einigermaßen gleichmäßig
atmete. Sie wollte mit niemandem sprechen, aber in ihrem Zimmer hätte sie es jetzt
auch nicht ausgehalten, und so stand Annie auf, überquerte den Hof und begann
an der Außenmauer der Burg entlangzugehen.
Sie dachte an nichts, während sie so
dahinschritt. Für den Augenblick war es Beschäftigung genug zu existieren.
Irgendwann erreichte Annie den Ort,
wo sie das verborgene Tor gefunden hatte. Es war noch immer nicht zu sehen
hinter dem dichten Gestrüpp aus Efeu und anderen Gewächsen. Annie schob es
beiseite und öffnete das Tor.
Wie schon zuvor, dauerte es eine
ganze Weile, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Doch dann
erfuhr sie einen Schock. Jemand hatte sich in der höhlenähnlichen Kammer
aufgehalten; der Stummel einer Talgkerze klebte auf einer umgedrehten
Holzkiste, und in der Ecke lag ein Strohsack, der so zerdrückt war, daß jemand
darauf geschlafen haben mußte.
Annie geriet zunächst in Panik, doch
dann beruhigte sie sich mit einer Reihe tiefer Atemzüge. Sie hatte bisher versäumt,
dem Prinzen von diesem geheimen Ort zu erzählen, und um den gleichen Fehler
nicht noch einmal zu begehen, würde sie jetzt sofort zu Rafael gehen, um ihren
Irrtum zu berichtigen.
Vorher jedoch mußte sie feststellen,
ob sich das Außentor öffnen
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