Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
ließ. Sie löste den Talgstummel von der Kiste,
zündete den Docht mit einem von mehreren Streichhölzern an, die sie in der Nähe
fand, und drang tiefer in die Höhle ein.
Das zweite Tor sprang mühelos auf
und öffnete sich in ein dichtes Gestrüpp aus Brombeerbüschen. Annie konnte
sehen, daß jemand begonnen hatte, einen Pfad durch die dicken, stachligen
Zweige zu schlagen, aber die Arbeit war nicht beendet worden. Eine Handsichel
lag verlassen auf dem Boden.
Annie blies die Kerze aus uns spähte
durch die Zweige, hinter denen grünes Land und die schimmernde blaue See zu
erkennen waren. Auf ein leises Geräusch hin wirbelte sie herum und entdeckte
Phaedra hinter sich.
»Du hast unser Versteck gefunden«,
sagte sie mit solcher Hoffnungslosigkeit, daß Annie Mitleid mit ihr empfand.
»Damit hätte ich rechnen müssen.«
Annie unterdrückte das Bedürfnis,
der Prinzessin ihre eigenen, aufregenden Neuigkeiten mitzuteilen. Sie mußten
ein Geheimnis bleiben, bis sie den richtigen Zeitpunkt fand, um Rafael davon zu
berichten. »Hast du hier deinen geheimen Liebhaber getroffen?« fragte sie ohne
den geringsten Vorwurf in der Stimme.
»Ja«, antwortete Phaedra und
verschränkte trotzig die Arme, was nur bedeuten konnte, daß sie auch jetzt noch
nicht bereit war, Annie zu verraten, wer der Mann war. »Und frag mich nicht
nach seinem Namen, weil ich ihn dir nicht nennen werde.«
»Man sollte meinen, es wäre
ungefährlich, hier von ihm zu reden - außer den Mäusen ist niemand in der
Nähe«, stellte Annie fest, ohne wirkliche Hoffnung jedoch, ihre Freundin damit
zu überreden. Sie und die Prinzessin waren in vieler Hinsicht aus dem gleichen
Holz geschnitzt, und ihre Sturheit war eine Eigenschaft, die sie teilten.
»Du wirst es noch früh genug
erfahren«, sagte Phaedra augenzwinkernd. »Alle werden es erfahren. Fast wünschte
ich, Rafaels Gesicht sehen zu können - ganz zu schweigen von Chandlers -, wenn
mein schlauer Trick entdeckt wird.«
»Ich würde an deiner Stelle nicht
übertrieben zuversichtlich sein«, riet Annie. »Wir sind etwa gleich groß, und
dein Hochzeitskleid wird mir tadellos passen ... Aber was ist mit unserer
Haarfarbe? Ich habe sehr viel helleres Haar als du.«
»Der Schleier ist aus dichtem
Spitzengewebe. Und was deine Haarfarbe betrifft, so kann das leicht geändert
werden. Wir färben es einfach.«
Einen kurzen Moment lang vergaß
Annie ihre Schwangerschaft, den bevorstehenden Krieg und die Hinrichtung am
nächsten Tag. »Mein Haar färben - einen Moment mal, Phaedra. Ich denke nicht
...«
»Beruhige dich«, unterbracht
Phaedra. »Es ist nur vorübergehend. Eine Spülung, von der ich in irgendeinen
alten Kräuterbuch gelesen habe. Ich habe die Zutaten bereits gesammelt.«
Annie verdrehte die Augen. »Gut, daß
ich nicht größer bin als du, sonst würdest du mir noch die Beine kürzen, um deinen
verdammten Plan auszuführen!«
Phaedra hob vorwurfsvoll den
Zeigefinger. »Eine Dame läßt sich niemals dazu herab, zu fluchen«, rügte sie,
in einer perfekten Imitation von Schwester Rose aus St. Apasia.
»Höchstens, wenn sie unvernünftig
genug ist, sich mit jemandem wie dir einzulassen, Hoheit!« Annie raffte
ihre Röcke und glitt an der Prinzessin vorbei in das düstere Innere der Höhle.
Sie befanden sich bereits auf der Innenseite der Burgmauern, bevor sie wieder
sprach. »Hast du eigentlich bedacht, bei all deinem Ränkeschmieden, wie wütend
Rafael auf mich sein wird, wenn er feststellt, daß du mit deinem
Liebhaber durchgebrannt bist und ich dir dabei geholfen habe?«
Phaedra blieb unbeeindruckt. »Rafael
betet dich an. Er wird natürlich wütend werden, klar, aber das wird nicht lange
anhalten.«
Annie seufzte und begann zur Burg
zurückzugehen. »Es gefällt mir nicht.«
»Wirklich? Ich finde es furchtbar
aufregend.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Als sie sich dem Burghof näherten,
stellte Annie fest, daß endlich das Hämmern und das Sägen aufgehört hatte. Tränen
der Verbitterung, der Angst und Müdigkeit brannten in ihren Augen, aber sie
drängte sie mit schierer Willenskraft zurück.
»Die Hinrichtung wird morgen
stattfinden«, sagte sie.
Phaedra legte tröstend einen Arm um
Annies Taille. »Ja. Aber du brauchst ja nicht zuzusehen. Ich werde drinnen bleiben,
bis alles vorbei ist und sie den armen Kerl bestattet haben.«
Annie dachte an Josiahs Bemerkung
von diesem Morgen. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber, wenn sie den armen
Teufel weit fort bringen würden,
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