Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
bißchen
aufzuschieben, traf sie die Entscheidung auszureiten, und ging zu den Ställen.
Die Stallknechte waren beschäftigt,
erzählten sich Geschichten oder spielten Karten mit den Soldaten, und Annie
unterbrach sie nicht. Statt dessen suchte sie sich eine graue Apfelstute aus,
legte ihr ein Halfter um und führte sie hinaus in den Sonnenschein.
»Ich verlasse mich darauf, daß du
hier stehenbleibst, während ich hineingehe und einen Sattel hole«, teilte sie
dem Pferd mit erhobenem Zeigefinger mit. »Wir Frauen müssen zueinanderhalten,
wenn die Männer schon so unzuverlässig sind.«
Die Stute wieherte und bewegte den
Kopf, als hätte sie verstanden, und Annie ging wieder hinein. Vielleicht,
dachte sie, während sie einen Sattel und eine Decke von einem Holzbock nahm,
war es unfair, zu behaupten, alle Männer seien unzuverlässig. Ihr Vater
war es nämlich nicht - wenn Annie auch zugeben mußte, daß es oft großer
Einschüchterung seitens ihrer Mutter bedurfte, um ihren Vater auf dem rechten
Weg zu halten. Und ihr Großvater, Brigham Quade, und alle ihre Onkel waren
ebenfalls sehr zuverlässige Männer, soviel sie wußte.
Als Annie in den Stallhof
zurückkehrte, stand die Stute noch brav am selben Platz.
Rasch und geschickt, denn Annie
hatte das Reiten schon gelernt, bevor sie das Alphabet beherrschte, sattelte sie
das Tier, nahm die Zügel in die Hand und schwang sich in den Sattel. Um kein
unnötiges Aufsehen zu erregen auf dem Weg zum Kristallsee hielt Annie sich
dicht an der Südmauer und umging die eigentliche Burg in weitem Bogen.
Phaedra hatte ihr viel von dem magischen
See erzählt, damals, als sie beide Freundinnen geworden waren, nachdem sie zur
gleichen Zeit in der Schweiz eingetroffen waren. Beide waren einsam und
verängstigt gewesen in jenen ersten Wochen, und Annie hatte unendlich gelitten
unter der Trennung von ihren Eltern und jüngeren Schwestern.
Die bloße Erinnerung daran ließ
einen Klumpen in ihrer Kehle aufsteigen. Patrick und Charlotte Trevarren hatten
damals befürchtet, daß ihre älteste Tochter zu einem unverbesserlichen
Wildfang aufwuchs, und darin übereingestimmt, daß sie Bildung und die
Gesellschaft anderer Mädchen ihres Alters brauchte. Nach langen Gesprächen
waren sie zu dem Schluß gekommen, daß ein Internat die beste Antwort auf ihre
Probleme war.
Sie hatten recht behalten - Annie
sah das heute ein - aber es war für sie alle eine schwierige und schmerzliche
Zeit gewesen.
Auf jeden Fall waren Annie und
Phaedra bald innige Freundinnen geworden und hatten es geschafft, ihren gewohnten
Unfug auch in St. Apasia fortzusetzen. Es muß den guten Schwestern hoch
angerechnet werden, dachte Annie lächelnd, daß sie einige unserer
rauhesten Kanten abgeschliffen und uns gelehrt haben, uns wenigstens ab und zu
wie junge Damen zu verhalten.
Als sie sich jedoch an ihre Eskapade
auf dem Wehrgang erinnerte und an Phaedras Kletterpartie über die Leiter auf
den Balkon, fragte Annie sich, ob all dieser Unterricht in weiblichem Benehmen
letztendlich nicht doch bloß Zeitverschwendung gewesen war.
Auf ihrem Ritt kam sie an mehreren
Bauernhäusern vorbei, da die Mauern von St. James nicht nur die Burg
umschlossen, sondern auch ein kleines Dorf, und ritt auf den Pfirsichhain
dahinter zu. Einige der Bäume blühten noch und verströmten einen wundervollen
Duft, und Annies Nerven beruhigten sich ganz plötzlich; es war, als ob sie
einen verzauberten Ort betreten hätte, an dem nur Frieden existierte.
Sie war so vertieft in ihre
angenehmen Überlegungen, daß sie das andere Pferd und seinen Reiter erst
bemerkte, als beide an ihrer Seite waren. Rafael, der auf einem riesigen schwarzen
Wallach saß, beugte sich zu ihr herab und zog Annies Stute am Halfter zu sich
heran.
Sein Gesicht war steif vor Zorn.
»Was machen Sie hier draußen allein?« herrschte er sie an. »Wie sind Sie ohne
Eskorte aus den Ställen fortgekommen? Ich hatte strikten Befehl gegeben, daß
niemand - niemand, Miss Trevarren! unbegleitet auszureiten hat.«
Annie schob trotzig ihr Kinn vor und
zwang sich, nicht zu weinen. »Keine Frau, meinen Sie wohl«, entgegnete
sie spitz, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß Mr. Barrett eine solch
alberne Regel befolgte, oder Lucian, und bestimmt nicht Rafael selbst, obwohl
er mit Sicherheit von allen in größter Gefahr war. »Ich bin es nicht gewöhnt,
eine Gefangene zu sein in den Häusern, in denen ich zu Gast bin, Sir.«
Rafaels großer Rappe wurde
ungeduldig und
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