Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
ganze Kraft einsetzte, nicht öffnen ließ.
Als eine Ratte von der Größe einer
Hauskatze an ihr vorbeihuschte, wich Annies Neugier Angst, und sie stürzte zum
Eingang zurück und durch den Efeubusch in den Sonnenschein hinaus. Dort blieb
sie stehen, drehte sich nach der verborgenen Höhle um und fragte sich, ob
Rafael oder irgend jemand sonst in St. James von ihr wissen mochte.
Sie hoffte, daß es nicht so war.
Nachdem sie sorgfältig das Tor
geschlossen und dafür gesorgt hatte, daß das Efeu den Eingang wieder vollkommen
verbarg, begann Annie auf einem anderen Weg zur Burg zurückzugehen.
Es waren mindestens fünfzig Pferde
und Reiter im Hof versammelt, und das Haupttor der Burg stand offen. Annie, die
sich hinter einer moosbewachsenen Statue am Gartenrand verbarg, hielt ganz unbewußt
den Atem an, als sie Rafael seinen prächtigen schwarzen Wallach besteigen sah.
Neben ihm, wie üblich, befand sich Edmund Barrett.
Obwohl Rafael ihr gesagt hatte, daß
er die Burg verlassen würde, bestürzte es sie, ihn tatsächlich aufbrechen zu
sehen. In stiller Verzweiflung beobachtete sie, wie Rafael und Mr. Barrett die
Truppen aus dem Tor geleiteten.
Die Hufe all dieser Pferde auf dem
harten Holz der Zugbrücke verursachten ein ohrenbetäubendes Geklapper. Annie
schaute zu, bis der letzte Reiter das Tor passiert hatte, und zuckte zusammen,
als das Fallgitter an seinen Platz zurückkrachte.
Mit geschlossenen Augen schickte
Annie ein stummes Stoßgebet zum Himmel, daß Rafael schon bald und gesund
heimkehren möge. Als sie sich abwandte, um in die Burg zu gehen, stieß sie mit
Chandler Haslett zusammen.
Sie hätte jetzt lieber niemanden
getroffen, doch bei Chandler brauchte sie wenigstens nicht den Schein zu wahren.
Er wußte, was sie für Rafael empfand.
Nach einem Blick auf ihr aufgelöstes
Haar, ihr fleckiges Hemd und ihre Reithosen lächelte Chandler und schüttelte
den Kopf. »Was für ein entzückender kleiner Wildfang Sie doch sind, Annie«,
bemerkte er belustigt. »Fast beneide ich Rafael um diese hemmungslose
Leidenschaft, die Sie ihm entgegenbringen.«
Einen peinlichen Moment lang dachte
Annie, er könne die Szene auf dem Balkon beobachtet haben, und errötete vor
Scham. Doch dann sah sie ein, daß das unmöglich war, und lächelte, während sie
sich die feuchten Hände an ihren staubigen Reithosen abwischte. »War das ein
Kompliment oder eine Beleidigung, Chandler?«
Er lachte, nahm ihren Arm und zog
sie sanft mit sich in Richtung Burg. »Das erstere natürlich«, antwortete er mit
einem weiteren erstaunten Blick auf ihre schmuddelige Kleidung. »Du liebe Güte
— was haben Sie bloß angestellt? Sind Sie auf einen Baum geklettert? Oder durch
ein Rattenloch gekrabbelt?«
Annie wollte niemandem außer Rafael
von dem verborgenen Tor erzählen, das sie entdeckt hatte, oder von der noch
eigenartigeren Höhle dahinter, obwohl sie nicht hätte sagen können, aus welchem
Grund. Deshalb wechselte sie das Thema. »Wohin reiten Rafael und Mr. Barrett
mit all diesen Soldaten?«
Chandler seufzte. Annie sah tiefe
Besorgnis auf seinen angenehmen, aristokratischen Zügen und schätzte Mr. Haslett
noch mehr, als sie erkannte, daß er sich um Rafael Sorgen machte. »Es scheint,
daß mein zukünftiger Schwager beschlossen hat, sich unter das gewöhnliche Volk
zu mischen.«
Annie blieb wie vom Blitz getroffen
stehen; ihr war, als ob jemand einen Eimer eisigen Wassers über ihr
ausgeschüttet hätte. »Aber das ist doch wahnsinnig gefährlich — Rafael hat so
viele Feinde!«
Chandler nickte und zog Annie
weiter. »Ja«, stimmte er ernst zu. »Und gestern hätte ich noch befürchtet, daß
Rafael bewußt den Tod sucht, indem er aufs Land hinausreitet, doch heute glaube
ich das nicht mehr. Ich habe vor seinem Aufbruch mit ihm gesprochen und eine
interessante Veränderung an ihm wahrgenommen.«
»Was für eine Art Veränderung?«
fragte sie und spürte, wie leise Hoffnung in ihrem Herzen aufstieg.
Chandler warf ihr einen
nachdenklichen Blick zu. »Ich maße mir nicht an, das zu erraten«, erwiderte er.
»Aber nun schlage ich vor, daß Sie in Ihr Zimmer gehen, sich umziehen und Ihre
Sachen packen.« Er lachte über ihre verblüffte Miene und fuhr eilig fort:
»Nein, meine Süße, Sie werden nicht aus der Burg verbannt, falls es das ist,
was Sie denken. Sie wissen doch, daß am Wochenende ein Verlobungsball in
Morovia stattfindet. Sie, Phaedra und ich reisen heute zum Palast, und Miss
Covington wird uns begleiten — als
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