Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
waren. Annie sah, daß Chandler die grüblerische
Stimmung seiner Braut bemerkt hatte und beunruhigt darüber war. Auch Felicia
war nachdenklich geworden seit ihrer Ankunft, obwohl ein schwaches Lächeln um
ihre Mundwinkel spielte.
Annie war zu dem Schluß gekommen,
daß Miss Covington nicht Rafaels Geliebte war, aber ihr war klar, daß trotz
allem eine sehr enge Bindung zwischen ihnen bestand. Es wäre ein gravierender
Irrtum anzunehmen, daß diese Frau keine Rivalin für sie darstellte. Wie Annie
bereits erfahren hatte, wurden Ehen zwischen europäischen Aristokraten nur sehr
selten aus Liebe oder Leidenschaft geschlossen.
Miss Covington, die Annies prüfende
Blicke zu spüren schien, wandte sich vom Fenster ab und lächelte. Ihre braunen
Augen funkelten vor gutmütiger Belustigung und geheimer Erregung.
Annie, die sich ertappt fühlte,
errötete und richtete den Blick auf die engen Straßen von Morovia, die kleinen
Steinbauten mit schmiedeeisernen Balkonen und Ziegeldächern, die Brunnen und
Statuen auf den öffentlichen Plätzen. Hausfrauen und Händler, Kinder und alte
Frauen versammelten sich in Eingängen und vor Ladenfenstern, um die Kutsche zu
betrachten. Ihre Gesichter waren mürrisch und bedrückt, und selbst mit Mr.
Barretts Wachen beidseitig der Kutsche fuhlte Annie sich nicht sicher.
Als die Straßen breiter wurden und
die Häuser größer, vermutete Annie, daß sie sich dem Palast näherten. Bevor sie
ihn jedoch erreichten, traf ein Stein oder ein Ziegel die Kutsche, und es
entstand heftige Unruhe unter den Soldaten. Schreie wurden laut, ängstliches
Pferdewiehern ertönte, und ein wahrer Hagel von Steinen ging auf die Kutsche
nieder. Annies Angst wurde nur noch von ihrer Neugier übertroffen; sie
versuchte, sich aus dem Fenster zu beugen, um ihre Angreifer zu sehen, doch
Chandler Haslett zog sie grob zurück. Er hatte Phaedra bereits auf den
Kutschenboden gestoßen, wo sie zitternd neben Felicia kauerte.
»Um Himmels willen, Annie«,
herrschte er sie an, als draußen Schüsse und wütende Schreie erklangen, »bücken
Sie sich!«
Als sie nicht sofort gehorchte —
nicht aus Eigensinn, sondern aus Verblüffung —, fluchte Chandler und stieß sie
buchstäblich mit dem Gesicht auf den Kutschensitz gegenüber seinem eigenen.
Als das geschehen war, versuchte er, die Frauen mit seinem Körper zu schützen,
eine Handlungsweise, die ihm Annies ewige Bewunderung eintrug.
Ein lautes Klirren ertönte, und der
schreckliche Lärm draußen ließ ein wenig nach. Annie schaute auf, durch die
Krümmung von Chandlers Arm, und sah einen der Soldaten durchs Fenster schauen.
»Sie sind jetzt sicher«, sagte er.
Chandler erhob sich und verließ die
Kutsche. Annie stand auf und folgte ihm, während Phaedra und Felicia sich vom
Boden aufrappelten und ihnen nacheilten.
Sie befanden sich jetzt innerhalb
des Palasthofs, erkannte Annie, umgeben von unzähligen berittenen Soldaten. Die
Tore, mindestens vier Meter hoch und aus massivem Stahl, waren geschlossen und
gesichert, und auf den Ziegelmauern zu beiden Seiten patrouillierten Wachen.
Der Pöbel schrie und tobte noch immer auf der Straße draußen, aber der Zugang
zum Palast war ihm verwehrt.
Felicia kam zu Annie und nahm ihren
Arm, um sie ins Innere des Palasts zu führen, ein prächtiges Bauwerk aus
quartzgesprenkeltem weißem Stein. Als Annie sich über die Schulter umschaute,
sah sie Phaedra ohnmächtig zusammenbrechen. Chandler, der dicht neben ihr
stand, fing die Prinzessin auf und hob sie auf seine Arme.
»Beeilen Sie sich«, sagte Felicia,
während sie Annie an den hohen Säulen vorbei zu den marmornen Eingangsstufen
zog. »Einige dieser Leute dort draußen könnten Flinten haben.«
Phaedra kam bereits wieder zu sich,
als Chandler sie in den Palast trug, aber sie war leichenblaß, und ihre Augen
waren groß vor Furcht. Chandler rief einen Dienstboten herbei und begann die
breite Treppe zum ersten Stock hinaufzugehen.
Annie wollte ihm schon folgen, doch
dann hielt sie am Fuß der Treppe inne. »Glauben Sie, daß Phaedra sich wieder
erholen wird?«
Falicia nickte. »Ja, die St. James
sind zäh — es bedarf mehr als einer Revolution, um sie zu vernichten.«
Als Annie sich umwandte, sah sie,
daß Felicia ihr silberblondes Haar neu feststeckte. Sie hatte bereits ihren
Umhang abgelegt und ihre Handschuhe ausgezogen.
Selbst im Inneren des Palasts, bei
geschlossenen Türen und trotz der Dienstboten, die auf Chandlers Rufe hin aufgeregt
durch die Halle
Weitere Kostenlose Bücher