Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
Anstandsdame gewissermaßen.«
Annie erinnerte sich jetzt, daß
Rafael diese Reise erwähnt hatte, und ihr Herz sank. Ohne die Teilnahme eines
gewissen Prinzen würde es kein großartiges Ereignis für sie werden.
Acht
Annie stand auf der Terrasse vor ihrem
Schlafzimmer, noch immer in Reithosen, Stiefeln und Männerhemd, und schaute
Rafaels Trupp nach, der sich auf der Küstenstraße langsam entfernte. Ihre Kehle
war eng vor ungeweinten Tränen, ihre Augen brannten, und so verstrichen mehrere
Minuten, bis sie das leise Schluchzen aus dem angrenzenden Raum vernahm.
Stirnrunzelnd wandte Annie sich um und sah die Glastüren zu Phaedras Balkon
leicht offenstehen.
»Phaedra?« rief sie.
Das Schluchzen brach ab, und die
Prinzessin kam auf den Balkon. Ihr dunkles Haar umrahmte in wirren Strähnen ihr
Gesicht und fiel ihr unordentlich auf den Rücken; ihre Augen waren riesig, ihre
Haut blaß wie Lilien in einer Vollmondnacht. Obwohl es bereits früher
Nachmittag war, trug die Prinzessin ein fließendes weißes Nachthemd, das ihre
tragische Erscheinung noch unterstrich.
Annie ging zum Trenngitter und
beugte sich darüber, entsetzt über den aufgelösten Zustand ihrer Freundin.
»Großer Gott, Phaedra«, wisperte sie, »was ist geschehen?«
Auch Phaedra verfolgte den Abzug der
Truppen. »Und wenn er nun getötet wird?« murmelte sie.
Obwohl Annie eigene Ängste nährte,
fühlte sie sich verpflichtet, die Prinzessin zu beruhigen. »Rafael ist ein
exzellenter Fechter, und ich wette, daß es auch keinen besseren Reiter in Bavia
gibt. Wir müssen uns darauf verlassen, daß seine Kraft und Geschicklichkeit —
und unsere Gebete — ihm das Leben bewahren werden ...«
Phaedras Blick war unstet, als sie
sich zu Annie umwandte. »Rafael?« murmelte sie, als hätte sie den Namen noch
nie zuvor gehört. »Ich hatte nicht an ihn gedacht.«
Annie war verwirrt und auch eine
Spur verärgert. »An wen dann?« fragte sie.
Eine weitere Veränderung ging mit
Phaedra vor; sie straffte die Schultern und hob das Kinn, und als sie wieder zu
der Schwadron Soldaten hinüberschaute, stieg heiße Röte in ihren Wangen auf.
Doch dann richtete sie den Blick auf Annie, und diesmal blitzten ihre Augen vor
Entschlossenheit. »Lucian«, sagte sie in sprödem Ton. »Hast du es nicht gehört?
Rafael hat ihn gezwungen, in die Armee einzutreten. Er ist jetzt Soldat.«
Annie glaubte keine Sekunde lang,
daß Phaedra so verzweifelt um Lucian geweint hatte; die beiden hatten
sich nie nahegestanden. Sie wußte allerdings, daß es sinnlos gewesen wäre, auf
der Wahrheit zu beharren, solange die Prinzessin so niedergeschlagen war,
deshalb zwang sie sich zu einem heiteren Tonfall, als sie sagte: »Hast du schon
angefangen, für die Reise nach Morovia zu packen?«
Phaedra schüttelte den Kopf, warf
einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Küstenstraße und wandte sich ab, um
in ihr Zimmer zurückzukehren.
An jenem Nachmittag, als sie zur
Hauptstadt aufbrachen, bestiegen außer ihm selbst noch drei Passagiere Chandler
Hasletts prächtige Kutsche — Annie, Miss Felicia Covington und eine stille,
geistesabwesende Phaedra. Eine zweite Kutsche
würde ihnen folgen, beladen mit Truhen und Gepäck, und ein Trupp von einem
Dutzend Soldaten war dazu bestimmt worden, die kleine Gruppe sicher nach
Morovia zu geleiten.
Obwohl Annie Rafael schrecklich
vermißte und sich große Sorgen um ihn machte, freute sie sich auf das
Abenteuer. Es wäre unerträglich für sie gewesen, eine ganze Woche lang auf der
Burg Rafaels Rückkehr abwarten zu müssen, und obwohl sie sich auf den Ball
selbst nicht besonders freute, reizte es ihre Neugier, Morovia und den
Königspalast zu erforschen.
Phaedra starrte blicklos in die
Ferne, während Chandler und Miss Covington über eine gemeinsame Bekannte in
England plauderten. Annie hörte eine Weile zu, doch dann begann sie sich zu
langweilen und richtete ihren Blick auf die schimmernde blaue See. Der typische
Meergeruch drang durch das offene Kutschenfenster und löste in Annie eine
heftige Sehnsucht nach dem Frieden und der Sicherheit der elterlichen Insel in
der Südsee aus.
Die Reise von St. James zur
befestigten Stadt von Morovia war kurz, und sie erreichten das große Außentor
nach knapp zwei Stunden Fahrt. Phaedra gab sich auch weiterhin lustlos und
unaufmerksam, selbst nachdem ihnen Einlaß gewährt worden war und die Kutsche
über uraltes Kopfsteinpflaster rollte, auf dem schon Ritter und fahrende
Troubadoure dahingeschritten
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