Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
schon einmal gesehen zu haben, als er das Schwert
zog und mit seinen Soldaten die kleine Gruppe vor dem Brunnen in die Flucht
schlug. Die Händler auf dem Markt kauerten sich hinter ihre Stände, und die
wenigen Läden in der Nähe wurden unverzüglich geschlossen und verriegelt.
Der junge Mann, der gesprochen
hatte, kletterte auf den Brunnenrand und schrie über den Aufruhr: »Das sind die
Männer eures Prinzen! Diese Lümmel, die euch ohne die geringsten Skrupel unter
den Hufen ihrer Pferde zertrampeln und mit ihren Schwertern durchbohren
würden, stehen im Dienste des Prinzen Rafael St. James von Bavia!«
»Nein«, wisperte Annie, doch selbst
als Phaedra versuchte, sie fortzuziehen, erkannte sie an den Uniformen der,
Männer, daß sie tatsächlich Soldaten im Dienst der Krone waren. Während sie
noch zu ihnen hinüberstarrte, richtete ein Mitglied der Miliz die Waffe auf den
Aufrührer und schoß ihn mitten in die Brust.
Er stürzte taumelnd in das Becken des
Brunnens, sein Blut färbte das Wasser, und Annie schrie vor Entsetzen.
»Aufhören!« brüllte sie und warf
sich auf den nächsten Reiter, den blonden Mann, der von Anfang an die Befehle
gegeben hatte. Sie klammerte sich an seinem Sattel fest, versuchte, über sein
Bein zu ihm hinaufzusteigen und kreischte in wütendem, hysterischem Protest.
Der Soldat lachte, setzte seinen
Stiefel auf ihre Brust und trat so hart zu, daß sie rückwärts auf die Steine
stürzte. Phaedra ließ sich neben Annie auf die Knie fallen und versuchte sie
zu schützen, während sie gleichzeitig ihre gesamte Kraft aufwandte, um Annie am
Aufstehen und einem erneuten Angriff auf den Mann zu hindern.
»Nein, Annie«, flehte Phaedra
schluchzend, »er würde dich umbringen!«
In einer wilden Raserei begannen die
Reiter, Verkaufsstände und Karren umzustoßen und ließen ihre Pferde kostbares
Obst und Gemüse zertrampeln. Händler knieten auf dem Boden und weinten über
ihre verlorenen Waren, und überall um sich herum hörte Annie Schreie der Angst
und des Entsetzens.
Sie und Phaedra hielten sich fest
umklammert, mitten in diesem Chaos, ihre Gesichter naß von Tränen. Irgendwann
jedoch kam Annie zur Besinnung und kroch, die Prinzessin mit sich ziehend,
unter eine Steinbank.
Dort blieben sie, bis Rafaels
Soldaten ihrer wilden Spiele müde geworden und fortgeritten waren. Keine Stunde
war vergangen, und doch hatte Annie Trevarrens Welt eine unwiderrufliche
Veränderung erfahren. Sie liebte Rafael St. James wie eh und je, aber ihre
Sympathie galt nun dem Volk von Bavia.
Langsam, still und noch immer ihre
Körbe in der Hand, kehrten Annie und Phaedra zum Palast zurück. Einmal, mitten
auf dem Weg, blieb die Prinzessin stehen und erbrach sich heftig.
Als sie dasselbe Tor erreichten, das
sie vorher auch passiert hatten, wollte die Wache sie nicht einlassen.
Bevor Annie erraten konnte, was
Phaedra vorhatte, schob die Prinzessin das Tuch zurück und hob den Kopf. »Laß
uns auf der Stelle ein«, befahl sie.
Der junge Soldat, der sie sofort
erkannt hatte, errötete bis unter die Haarwurzeln und schob mit zitternden
Fingern den schweren Riegel zurück. »Sehr wohl, Euer Hoheit«, stammelte er.
»Ich wußte nicht, daß Ihr es wart, wirklich nicht, ich ...«
So blaß und erschüttert sie auch
sein mochte, schwebte Phaedra doch wie eine Königin durch das Tor, und Annie
folgte ihr, noch immer das Bild des ermordeten jungen Mannes vor Augen. Ihre
naiven, romantischen Illusionen waren zerstört und ihr Herz gebrochen.
Rafael war kein Märchenprinz, wie
sie immer geglaubt hatte. Er war statt dessen ein Despot, ein Tyrann und das
Oberhaupt einer Bande von Verbrechern. Aber das war noch nicht das Schlimmste,
o nein, keineswegs — das Schlimmste war, daß Annie nun die Wahrheit über Rafael
kannte und ihn trotzdem liebte. Was bedeutete, daß sie entweder wahnsinnig war
oder selbst ein Ungeheuer.
Die beiden Mädchen hatten fast einen
der hinteren Eingänge zum Palast erreicht, als Chandler Haslett erschien, ganz
offensichtlich zutiefst besorgt und wütend. »Wo habt ihr gesteckt?« fuhr er sie
an.
Zu Annies Überraschung ließ Phaedra
den Korb mit den Orangen fallen und stürzte sich aufschluchzend in Chandlers
Arme. »Es war schrecklich!« heulte sie. »Fast wären wir umgebracht worden!«
Chandler zögerte, nicht ganz sicher
offenbar, wohin er seine Hände legen sollte, doch dann umarmte er die Prinzessin
zaghaft. »Was ist geschehen?« fragte er.
Annie bückte sich, um Phaedras
Orangen
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