Qual
diese Frage nicht für einer Antwort würdig.
Ich hätte mich beinahe deswegen entschuldigt, konnte mich aber noch im letzten Augenblick zusammenreißen.
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Ich wachte um sechs Uhr dreißig auf, wenige Sekunden bevor der Wecker Alarm schlug. Ich erinnerte mich an Fragmente eines bereits verblassenden Traums: Bilder von Wellen, die gegen zerbröckelnde Korallen und Kalksteinwände schlugen, aber all das war offenbar nicht mit dem Gefühl der Bedrohung verbunden gewesen. Sonnenlicht strömte in den Raum und glänzte auf den glatten silbergrauen Wänden aus poliertem Riff-Fels. Unten auf der Straße unterhielten sich Leute. Ich konnte keine Worte identifizieren, aber der Tonfall wirkte entspannt, freundlich und zivilisiert. Falls das die Anarchie war, gefiel sie mir besser, als in Shanghai oder New York vom Lärm der Polizeisirenen geweckt zu werden. Ich fühlte mich so erfrischt und zuversichtlich wie schon seit langem nicht mehr.
Und heute würde ich endlich dem Thema meiner Dokumentation begegnen.
Am Abend zuvor hatte ich eine Nachricht von Mosalas Assistentin Karin De Groot empfangen. Mosala gab um acht Uhr eine Medienkonferenz, und danach würde sie den größten Teil des Tages beschäftigt sein. Ihr Programm begann um neun, wenn Henry Buzzo von der Caltech einen Vortrag hielt, mit dem er angeblich eine komplette Gruppe von MSTs in Frage stellen wollte. Doch zwischen der Konferenz und Buzzos Vortrag hatte ich endlich die Gelegenheit, mit ihr über die Dokumentation zu sprechen. Obwohl wir nichts überstürzen mußten – schließlich konnte ich sie nötigenfalls immer noch in Kapstadt interviewen – hatte ich mich bereits gefragt, ob ich genötigt war, ihren Aufenthalt auf Stateless genauso wie jeder andere Journalist zu verfolgen.
Ich überlegte, ob ich frühstücken sollte, doch seit ich mich dazu gezwungen hatte, auf dem Flug von Dili hierher etwas zu essen, hatte sich mein Appetit noch nicht zurückgemeldet. Also blieb ich im Bett liegen und studierte noch einmal Mosalas biographische Daten. Anschließend begutachtete ich meinen vorläufigen Drehplan für die nächsten vierzehn Tage. Das Zimmer war funktionell eingerichtet und im Vergleich zu den meisten Hotels geradezu aseptisch, doch insgesamt war es sauber, modern, hell und preisgünstig. Ich hatte schon in weniger komfortablen Betten in Zimmern mit feudalerem, aber deprimierenderem Inventar geschlafen – zum doppelten Preis.
Alles lief viel zu gut. Ein friedliches Ambiente, ein unproblematisches Thema – womit hatte ich all das verdient? Ich hatte nicht einmal in Erfahrung gebracht, wen Lydia in die Bresche geschickt hatte, um Qual zu übernehmen. Wer den Tag in einer psychiatrischen Klinik in Miami oder Bern verbrachte, während den Opfern in Zwangsjacken einem nach dem anderen die Beruhigungsmittel entzogen wurden, um die Wirkung eines nichtsedierenden Medikaments gegen das Syndrom zu testen, oder um neuropathologische Scans durchzuführen, die nicht von pharmakologischen Nebenwirkungen gestört wurden.
Ich verdrängte verärgert diese Vorstellungen. Ich war nicht für Qual verantwortlich – ich hatte diese Krankheit nicht geschaffen. Und ich hatte niemanden dazu gezwungen, an meine Stelle zu treten.
Bevor ich mich auf den Weg zur Medienkonferenz machte, rief ich widerstrebend Sarah Knight an. Meine Neugier auf Kuwales Andeutungen hatte sich fast vollständig verflüchtigt – dahinter steckte mit Sicherheit eine traurige Geschichte, jedoch ohne Überraschungen – und die Aussicht, zum ersten Mal Sarah in die Augen zu sehen, nachdem ich ihr Violet Mosala weggenommen hatte, war nicht gerade verlockend.
Ich mußte ihr nicht in die Augen sehen. In Sydney war es erst sechs Uhr morgens, und ich wurde mit ihrem Anrufbeantworter verbunden. Erleichtert hinterließ ich eine kurze Nachricht und ging dann nach unten.
Der große Saal war mit Menschen vollgepackt und von erwartungsvollem Stimmengewirr erfüllt. Ich hatte Visionen gehabt, wie mehrere hundert Demonstranten von Demütige Wissenschaft den Hoteleingang belagerten oder sich in den Korridoren mit Sicherheitsleuten und Physikern prügelten, aber es war kein Unruhestifter in Sicht. Ich blieb im Eingang stehen und brauchte eine Weile, bis ich Janet Walsh im Publikum entdeckt hatte, aber danach war es kein Problem, durch eine Dreieckspeilung den Standort von Connolly zu ermitteln. Er saß in einer vorderen Reihe, von wo er den Blick zwischen Walsh und Mosala hin und her
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