Quasikristalle: Roman (German Edition)
sehen.
Aus der Balkontür drang Musik.
Bonami war nirgends zu sehen.
Am nächsten Tag fuhren die Tschochs ins Salzkammergut, auf Sommerfrische. Suzanne würde unwillig, aber verlässlich die Tiere füttern, dreimal täglich, und er würde das Drama versäumen, wenn es denn überhaupt ein Drama gab.
Im Herbst, nach ihrer Rückkehr, war sie kaum zu sehen. Sie hatte poste restante eingerichtet – das hatte er vom Briefträger erfahren – , und bis auf ein kleines Licht oder ein geöffnetes Fenster hie und da gab es selten Anzeichen, dass sie noch hier lebte.
Er hatte bei Gott anderes zu tun. Bei Hannelore wurde ein Knoten unter der Achsel entdeckt und entfernt, und Suzanne erlitt eine Fehlgeburt. Hannelore nahm alles, auch die paar Monate Perücke, stoisch, Suzanne dagegen brach zusammen, und er fragte sich, ob es denkbar war, dass Hannelores Knoten Suzanne zusätzlich belastete, während Suzannes Unglück Hannelores mütterliche Überlebenskräfte erst recht stimulierte. Aber was verstand er davon.
Der Garten wurde vernachlässigt, den Rest gaben ihm die Enkeltöchter, die nun häufiger bei ihnen abgegeben wurden, weil Suzanne so viel Ruhe brauchte. Das Planschbecken schlug eine Narbe in den Rasen wie ein keltischer Kultkreis, etliche Blumen wurden beim Krocket geköpft, und schließlich wanderte ein Maulwurf ein, was Ludwig unter diesen Umständen für undenkbar gehalten hatte. Denn an sich scheuen Maulwürfe den Lärm.
Beim letzten Mal, als er Frau Molin allein begegnete, war sie vermutlich betrunken. Es war zwei Uhr nachts, die Herbststürme heulten, und irgendetwas klapperte schrecklich im oder vor dem Haus. Hannelore hatte ihn geweckt, er selbst hätte gar nichts bemerkt, sein Schlaf war gut und tief. Als er die Wohnungstür öffnete, brannte im Stiegenhaus Licht. Er band den Schlafrock fester zu und stieg langsam hinunter, da hockte sie vor ihrer Tür, in froschgrünen Stöckelschuhen. Sie hatte die Unterlippe in den Mund gezogen und summte vor sich hin, um sie herum lagen Papierschnipsel auf dem Boden, in Weiß und Gold. Er fürchtete, sie zu erschrecken, und blieb auf der Treppe stehen. Da drehte sie den Kopf und grüßte, unbefangen, als wäre ihr die Uhrzeit gar nicht bewusst.
Sie war dabei, den Imre Bonami auf ihrem Namensschild zu überkleben, von rechts nach links, mit goldfarbener Folie. Als Ludwig begriffen hatte, stand nur noch ›Im‹ da. Frau Molin summte wieder, er meinte, einen Song von Frank Sinatra zu erkennen, einen der beschwingteren. Ein letztes Stück Folie, vorsichtig und konzentriert angebracht, und sie schwang, auf ihren Fersen sitzend, herum, kippte vornüber auf die Knie, sodass er beinahe zu ihr gestürzt wäre, weil er dachte, sie fiele aus Erschöpfung aufs Gesicht. Doch raffte sie nur den Verschnitt zusammen, zerknüllte ihn in der Hand, nahm eine Schere, die auf dem Fußabstreifer gelegen war, und stand vorsichtig auf.
Was machen Sie denn mit dem armen Herrn Bonami, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Für einen Moment ging das Licht aus.
Sieht man das nicht? Ich entferne ihn, antwortete sie, bevor sie den leuchtenden Knopf drückte. Sie roch nach Rauch, außerdem süßlich, nach zu viel Parfum, sie sah ein wenig zerrupft aus, Reste von Schminke, aber bitte, es war sehr spät.
Niemals war Hannelore so gewesen, so … entzückend beschädigt.
Für dergleichen hätte er niemals die Kraft gehabt, für solch fordernde Ungereimtheiten. Ein Wunder nur, dass es Männer gab, die diese Kraft hatten. Draußen schlug wieder ein Fenster oder was auch immer es war. Er fuhr zusammen, hob entschuldigend die Schultern und eilte hinaus. Als er nach wenigen Minuten zurückkam, stand sie noch in der Tür und wartete.
Gefunden, fragte sie, und er nickte. Dann ist ja endlich alles gut, nuschelte sie wohlwollend, gute Nacht, Herr Doktor, und während sich die eine Tür schloss, öffnete sich weiter oben die andere, und Hannelores Stimme rief verhalten: Ludwig?
Ein halbes Jahr später trug sie die Haare plötzlich jungenhaft kurz. Sie kündigte schriftlich und fristgerecht und übergab die Wohnung in tadellosem Zustand; sogar die Dübellöcher waren verputzt. Die Verabschiedung fiel von beiden Seiten so herzlich aus, als hätte man einander jahrelang gekannt und geschätzt. Alles, alles Gute, rief Hannelore, viel Erfolg, und dass sie ihren beruflichen Weg interessiert weiterverfolgen würden.
Wir haben ihn bis jetzt nicht verfolgt, sagte Ludwig zu Hannelore, als sie vom ehemals
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