Quellen Der Lust
Gastwirt sie nicht in die Schranken weisen, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Das einzige Mittel, um gegen sie vorzugehen, war die schwierige Kunst der Diplomatie.
Um mächtige Männer mit anstößigen Manieren zu bändigen, bedurfte es besonderer Fähigkeiten: Geschicklichkeit, Humor, Aufrichtigkeit – und das Wissen um die richtige Schmeichelei. Es war ein Balanceakt der schwierigsten Art. Sie sah in Carsons schuldbewusstes und erwartungsvolles Gesicht, und ihr Herz klopfte schneller. Sie hatte keine adligen Nachbarn, die sie um Hilfe bitten könnte, und keinen einflussreichen Ehemann, der ihr beistehen würde. Sie war auf sich selbst gestellt. Und sie würde heute Nacht einen verdammt geschickten Balanceakt vollführen müssen.
Sie zog ihren durchnässten Umhang aus und reichte ihn Carsons Sohn, der ihn neben der Tür aufhängte. Sie blickte an sich hinunter, um ihre Kleidung zu inspizieren. Ihre maßgeschneiderte dunkelblaue Schößchenjacke, die schlichte weiße Bluse und der gut geschnittene graue Wollrock waren sicherlich nicht die ideale Garderobe, um betrunkene Adlige zu betören, aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich umzuziehen.
„Ich brauche einen Spiegel, jemanden, der Geige spielen kann und einen riesigen Kessel voller Punsch, in den ihr bitte unseren stärksten Rum mischt.“ In ihren Augen blitzte die Wut auf, die sie zügeln musste, bevor sie vor die Männer trat.
Carson nickte erleichtert und beauftragte seinen Sohn, den Stallknecht Old Farley samt seiner Geige herbeizuschaffen. Dann befahl er dem Küchenmädchen, einen Spiegel aus dem Dienstbotentrakt in die Küche zu bringen. Lautes Männergelächter drang durch den langen Flur aus dem Schankraum zu ihnen herüber, und vermischte sich mit dem Lärm metallener Becher, die zu Boden fielen, Rufen nach mehr Alkohol und dem gebrüllten Befehl an den Gastwirt, „die süße Kleine wieder hereinzuschicken“.
Mariah sah in die Gesichter ihrer Leute, die sie erwartungsvoll anblickten, und nahm all ihren Mut zusammen. Es ging um ihr Wirtshaus, ihr Zuhause und ihr Leben. Ihre Leute brauchten sie. Sie musste sie mit den einzigen Waffen verteidigen, die sie besaß: Geistesgegenwärtigkeit und ein klarer Verstand.
Der Spiegel wurde gebracht, und sie steckte ihre üppigen honigblonden Haare zu einem losen, weichen Knoten hoch, zog die Jacke aus und öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Sie war keine umwerfende Schönheit, aber ihr launischer und anspruchsvoller Mann hatte oft damit geprahlt, dass Männer sich ein zweites Mal nach ihr umdrehten, wenn sie lächelte. Während sie ihre Zähne inspizierte und sich in die Wangen kniff, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Augen strahlten mit einer Zuversicht, die sie überraschte.
„Carson, bleiben Sie wach, falls ich Sie brauche, und achten Sie darauf, den Punsch aufzufüllen.“ Sie nahm einen Schluck des Gebräus, das für die Gäste vorbereitet wurde, griff nach einer Flasche ihres besten Rums und betrat die Gaststätte.
Ihre Strategie war sowohl einfach als auch riskant: sie hatte vor, den Anführer auszumachen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und ihn dazu zu bringen, ihr zu helfen, den Rest der Truppe im Zaum zu halten, bis sie alle zu betrunken waren, um weitere Missetaten anzustellen. Sollte ihr Plan scheitern, würde sie Zeter und Mordio schreien, woraufhin Carson mit seiner zuverlässigen alten Flinte angelaufen käme.
Sechs zumeist junge, gut angezogene Männer hatten sich auf Bänken und Stühlen vor dem flackernden Kamin des eichengetäfelten Schankraums ausgebreitet. Außer ihnen befand sich niemand im Raum, was angesichts des schlechten Wetters und der Tatsache, dass jedes Zimmer der Herberge für die Nacht belegt war, seltsam war. Das rüpelhafte Benehmen der Männer schien alle anderen Gäste vertrieben zu haben.
Je näher sie der Gruppe kam, umso deutlicher konnte sie den offensichtlichen Reichtum der Männer sehen und riechen: goldene Taschenuhren und kalbslederne Stiefel, Sandelholzseife und süß duftender Tabak … Dann fiel ihr Blick auf die verschmutzten Tische und Stühle, auf die sie ihre Füße gelegt hatten, die Zigarrenasche auf ihrem frisch geputzten Boden, leere Biergläser achtlos verteilt auf Tischen, Boden und Kaminsims.
„Noch etwas zu trinken, meine Herren?“, fragte sie laut, als sie auf die Gruppe zuging. Die zwei Männer, die ihr zugewandt saßen, richteten sich auf und die anderen drehten sich um, um zu sehen, was ihr Interesse geweckt hatte. Sie
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