Quicksilver
gefragt, wer sie eigentlich liest«, überlegte Wilkins. »Er muss sehr klug oder aber ständig verwirrt sein.«
»Ebenso wird der gesamte Postausgang Oldenburgs überprüft – das wusstet Ihr doch.«
»Und in irgendeinem Brief hat er etwas Indiskretes geschrieben -?«
»Es ist einfach so, dass der schiere Umfang seiner Korrespondenz mit dem Ausland – zusätzlich zu der Tatsache, dass er aus Deutschland stammt – und dass er als Diplomat auf dem Kontinent wirkte – und dass er mit Cromwells puritanischem Dichter befreundet ist -«
»John Milton.«
»Ja... und bedenkt schließlich, dass niemand bei Hofe auch nur ein Zehntel von dem versteht, was er in seinen Briefen schreibt – einen bestimmten Menschentyp macht das nervös.«
»Wollt Ihr damit sagen, er ist aufgrund allgemeiner Prinzipien in den Tower von London geworfen worden?«
»Als Vorsichtsmaßnahme, jawohl.«
»Heißt das etwa, er muss für den Rest seines Lebens dort bleiben?«
»Natürlich nicht... nur, bis gewisse delikate Verhandlungen zum Abschluss gebracht worden sind.«
»Delikate Verhandlungen...«, wiederholte Wilkins ein paar Mal, als ließen sich den trockenen, markigen Worten auf diese Weise weitere Informationen abpressen.
Und an dieser Stelle versank der Diskurs, der für Daniel bislang lediglich verwirrend gewesen war, in vollkommenem und absolutem Dunkel.
»Ich wusste nicht, dass er irgendetwas Delikates am Leibe hat... lasst gefälligst dieses Feixen, Mr. Pepys, so habe ich es nicht gemeint!«
»Aber, aber, es ist doch bekannt, dass er sa soeur überaus liebevolle Gefühle entgegenbringt. In letzter Zeit schreibt er ihr unentwegt Briefe.«
»Schreibt sie zurück?«
»Minette hat einen Briefausstoß wie ein Diplomat .«
»Und hält Seine Liebden – vermute ich – über alles, was es bei ihrem Geliebten Neues gibt, bestens auf dem Laufenden?«
Haus Bourbon
»Die Korrespondenz ist derart umfangreich«, rief Pepys aus, »dass Seine Majestät dem Mann, von dem Ihr sprecht, niemals so nahe gewesen sein kann wie heute. Goldreifen sind stärker als stählerne Bande.«
Wilkins, der allmählich so aussah, als wäre ihm nicht ganz wohl: »Hmmm... dann ist es ja nur gut, dass über diese beiden Erzprotestanten förmliche Kontakte hergestellt werden -«
»Ich möchte Euch auf Kapitel zehn Eures Werkes von 1671 verweisen«, sagte Pepys.
»Äh... ich bin offenbar schwer von Begriff... da komme ich nicht mit... sprechen wir jetzt von Oldenburg?«
»Ich hatte nicht die Absicht, das Thema zu wechseln – wir sind immer noch bei Verträgen.«
Die Kutsche hielt an. Pepys stieg aus. Daniel lauschte auf das leiser werdende Klack-klack-klack seiner glattsohligen Stiefel auf den Pflastersteinen. Wilkins starrte ins Leere, versuchte nicht zu entschlüsseln, was immer Pepys gesagt hatte.
In einer Kutsche durch London zu fahren war nur geringfügig besser als von Männern mit Knütteln systematisch verprügelt zu werden – Daniel hatte das Bedürfnis, sich zu strecken, stieg deshalb ebenfalls aus, drehte sich um – und stellte fest, dass er eine Allee entlangblickte, die geradewegs auf die Vorderseite des St. James’s Palace zuführte, ein paar Hundert Ellen entfernt. Er drehte sich um hundertachtzig Grad und erblickte Comstock House, einen atemberaubenden gotischen Klotz, der sich zwischen Gärten und Pflastersteinen emporwuchtete. Pepys’ Kutsche war von der Piccadilly in eine Nebenstraße eingebogen und hatte im Vorhof des Anwesens gehalten. Daniel bewunderte dessen Lage. Wenn Comstock wollte, konnte er sich mitten in seinen Vordereingang stellen und eine Muskete abfeuern, einen Schuss quer durch seinen Garten, zu seinem Haupttor hinaus, über die Piccadilly hinweg, genau die Mitte einer von Bäumen gesäumten, pseudoländlichen Allee entlang, quer über die Pall Mall und geradewegs in den Haupteingang des St. James’s Palace hinein, wo er wahrscheinlich jemand sehr gut Gekleideten treffen würde. Steinmauern, Hecken und schmiedeeiserne Gitter waren so raffiniert angeordnet, dass sie die Sicht auf die Piccadilly und die benachbarten Häuser versperrten und den Eindruck verstärkten, Comstock House und der St. James’s Palace gehörten ein und demselben Familienverbund an.
Daniel schob sich zu Comstocks Eingangstor hinaus und stand am Rand der Piccadilly, den Blick nach Süden, auf den St. James’s Palace gerichtet. Er konnte einen Gentleman mit einer Tasche den Palast betreten sehen – wahrscheinlich ein Arzt, der gekommen
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