Quicksilver
baumeln lassen, damit er sie, wenn ein Matrose das Licht einer Laterne nebst einem Schießprügel auf ihn richtete, schütteln und die Münzen darin klingeln lassen konnte. Das war eine Musik, zu der Matrosen aller Herren Länder munter tanzten.
Natürlich fehlten den Schlammlerchen am Anfang die Münzen. Sie brauchten Kapital. John Cole – dem größten und mutigsten unter den Burschen, die das Beiboot gestohlen hatten – fiel auch dafür eine schlaue Lösung ein: Sie würden die einzigen Schiffsteile stehlen, an die man herankommen konnte, ohne dass man erst an Bord gehen musste, nämlich die Anker. Die würden sie dann den Kapitänen von Schiffen verkaufen, die plötzlich keine Anker mehr hatten. Ein zusätzlicher Reiz dieses Plans lag darin, dass womöglich Schiffe mit der Strömung abtrieben und auf Grund gingen, zum Beispiel auf der Isle of Dogs, wo sie von Rechts wegen zur Plünderung freigegeben waren.
In einer Nebelnacht (die Nächte waren allerdings immer neblig) legten die Schlammlerchen im Beiboot ab und ruderten stromaufwärts. In ihrer Sprache waren die Ruder eines Bootes ein Paar Flügel . Indem sie mit ihnen schlugen, flogen sie zwischen vor Anker liegenden Schiffen hindurch – die alle, da die Ankertaue an ihrem Bug befestigt waren, flussaufwärts zeigten und wie Wetterhähne von der Strömung des Flusses hin und her geworfen wurden. Als sie sich dem Heck einer tonnenförmigen holländischen Galjoot näherten – einem einmastigen Frachter, der etwa die doppelte Länge und die zehnfache Ladekapazität ihres Beiboots hatte -, schubsten sie Dick mit dem üblichen Seil um das Fußgelenk und einem Messer zwischen den Zähnen über Bord. Seine Anweisung lautete, stromaufwärts am Rumpf der Galjoot entlang zu ihrem Bug zu schwimmen, bis er ihr an Backbord in den Fluss hinabführendes Ankertau fand. Das Seil von seinem Knöchel sollte er an besagtes Tau binden und dann das Tau oberhalb der Verbindungsstelle durchsägen. Das hätte zur Folge, dass die Galjoot vom Anker los-, das Beiboot dagegen an demselben festgemacht würde und so ein plötzlicher, lautloser Besitzerwechsel stattfände. Nachdem das erledigt wäre, sollte er dreimal an dem Seil rucken. Dann würden die Schlammlerchen daran ziehen. Das würde sie stromaufwärts bringen, bis sie unmittelbar über dem Anker wären, und wenn sie fest genug zögen, würde ihr Fang sich aus dem Flussbett lösen.
Dick platschte durch den Nebel davon. Mehrere Minuten lang beobachteten sie, wie das Seil sich stoßweise abwickelte – das bedeutete, dass Dick schwamm. Dann hörte es für eine ganze Weile auf, sich abzuwickeln – Dick hatte das Ankertau gefunden und sich an die Arbeit gemacht! Die Schlammlerchen plätscherten mit in Lumpen gehüllten Rudern und schlugen mit diesen Flügeln gegen die Strömung des Flusses. Jack saß mit dem Seil in der Hand da und wartete auf ein dreimaliges scharfes Rucken, das Signal von Dick. Doch es ruckte nicht. Stattdessen erschlaffte das Seil. Jack zog es zusammen mit seinem Bruder Bob ins Boot. Zehn Ellen davon gingen durch ihre Hände, bevor es wieder straff wurde, und dann spürten sie am anderen Ende nicht ein dreimaliges scharfes und eindeutiges Rucken, sondern eine Art Vibration.
Offensichtlich war irgendetwas schief gelaufen, aber John Cole hatte nicht die Absicht, ein gutes Seil aufzugeben, und so zogen sie, was das Zeug hielt, und bewegten sich dabei stromaufwärts. Irgendwo seitlich an der Galjoot fanden sie eine Schlinge im Seil, in der ein kalter, blasser Knöchel steckte, und heraus kam der arme Dick. Das Ankertau war genau an dieser Schlinge festgeknotet. Während Jack und Bob versuchten, Dick mit Schlägen ins Leben zurückzuholen, versuchten die Schlammlerchen, den Anker ins Boot zu ziehen. Beides misslang: Der Anker war so schwer, wie Dick tot war. Und jetzt begannen wütende Holländer oben auf der Galjoot , ihre Donnerbüchsen in den Nebel abzufeuern. Höchste Zeit zu verschwinden.
Bob und Jack, die Dick als Handlanger beziehungsweise Lehrling gedient hatten, hatten nun keinen Tauklettermeister mehr, dem sie hätten nacheifern können, dafür aber einen Hang zu außerordentlich schlechten Träumen. Denn ihnen war – vielleicht nicht sofort, aber letzten Endes doch – klar, dass sie wahrscheinlich den Tod ihres eigenen Bruders verursacht hatten, indem sie das Seil straff und Dick damit unter die Wasseroberfläche des Flusses zogen. Sie schieden für immer aus dem Schlammlerchen-Geschäft aus. John
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