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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Jack sich vorgekommen wie in einem Tollhaus. Doch nach einer Weile hatte Jacks Ohr gelernt, einzelne Stimmen herauszuhören – ungefähr so, wie man in Schlachten Trommelschläge oder Hornsignale hörte. Die Pariser, das wusste er, hatten in dieser Hinsicht eine gewisse Meisterschaft entwickelt, so wie der Generalleutnant der Polizei aus einem Strom von Menschen, der bei Tagesanbruch durch ein Tor drängte, zielsicher den Landstreicher herausfinden konnte. Jack schaffte es nun immerhin, eine hohe Stimme » Mort-aux-rats! Mort-aux-rats !« rufen zu hören, und dann war es ein Leichtes, den Kopf zu drehen und eine lange, einer Pike ähnelnde Stange zu entdecken, die schräg über irgendjemandes Schulter getragen wurde und von der, an den Schwänzen aufgehängt, ein Dutzend Rattenleichen herabbaumelten, deren Frische ein untrügliches Zeichen dafür war, dass dieser Mann erst vor kurzem gearbeitet hatte.
    Jack bahnte sich einen Weg ins Gedränge, wobei er seine Krücke jetzt benutzte wie ein Einbrecher sein Stemmeisen, um kleine Öffnungen zu erweitern, und nach einigen Minuten hektischer Verfolgung holte er St-George ein und schlug ihm wie ein Polizeibeamter auf die Schulter. Viele hätten daraufhin alles fallen lassen und die Beine in die Hand genommen, aber man wurde nicht zur Legende im Rattentötergeschäft, wenn man sich so leicht ins Bockshorn jagen ließ. St-George drehte sich um, was die Ratten an seiner Stange weit ausschwingen ließ, als wären sie perfekt synchronisierte Stangen-Tänzerinnen, wie man sie auf Jahrmärkten sah, und erkannte ihn. Ruhig, aber nicht kalt. »Jacques – du bist ihnen also tatsächlich entwischt, diesen deutschen Hexen.«
    »Nicht der Rede wert«, sagte Jack und versuchte, erst sein Erstaunen und dann seinen Stolz darüber zu verbergen, dass die Kunde davon sich bis nach Paris verbreitet hatte. »Sie waren Dummköpfe. Hilflos. Aber wenn du mich gejagt hättest...«
    »Und jetzt bist du in die Zivilisation zurückgekehrt – warum?« Eiserne Neugier war ein weiterer wichtiger Zug der Rattentöter. St-George hatte lockiges, sandfarbenes Haar und haselnussbraune Augen und musste als Junge engelsgleich ausgesehen haben. Die Reife hatte seine Wangenknochen und (so die Legende) andere Körperteile auf eine gar nicht göttliche Weise verlängert – sein Kopf war trichterförmig und verjüngte sich zu geschürzten Lippen hin, seine starrenden Augen wirkten aufgemalt. »Du weißt sicher, dass das Passe-volante -Geschäft zerschlagen worden ist – warum bis du hier?«
    »Um meine Freundschaft mit dir zu erneuern, St-George.«
    »Du bist auf einem Pferd geritten – das rieche ich.«
    Jack beschloss, darauf nicht einzugehen. »Wie kannst du hier irgendwas außer Menschenscheiße riechen?«
    St-George schnupperte in die Luft. »Scheiße? Wo? Wer hat geschissen?« Das war eine Art Scherz und für Jack ein Signal, dass er St-George jetzt anbieten konnte, als Zeichen seiner Freundschaft etwas für ihn zu kaufen. Nach längeren Verhandlungen willigte St-George ein, Empfänger von Jacks Großzügigkeit zu sein – aber nicht weil er es brauchte -, sondern weil es der menschlichen Natur innewohnte, dass man von Zeit zu Zeit Dinge herschenken musste, und dass man dann jemanden brauchte, dem man Dinge schenken konnte , und es Teil einer guten Freundschaft war, dieser jemand zu sein, wenn einer gebraucht wurde. Als Nächstes wurde darüber verhandelt, was Jack kaufen sollte. St-Georges Ziel war herauszukriegen, wie viel Geld Jack bei sich hatte, und Jacks, bei St-George die Lust auf mehr Informationen wach zu halten. Aus taktischen Gründen ließ St-George sich schließlich darauf ein, Jack zu erlauben, ihm Kaffee zu kaufen – allerdings musste er von einem bestimmten Verkäufer namens Christopher sein.
    Ein halbe Stunde lang suchten sie nach ihm. »Er ist kein großer Mann -«
    »Also schwer zu finden.«
    »Aber er trägt einen roten Fes mit einer goldenen Quaste -«
    »Ist er denn Türke?«
    »Natürlich! Ich hab dir doch erzählt, dass er Kaffee verkauft, oder?«
    »Ein Türke namens – Christopher?«
    »Spiel nicht den Clown, Jacques – denk dran, ich kenne dich.«
    »Aber -?«
    St-George rollte mit den Augen und fuhr ihn an: »Sämtliche Türken, die in den Straßen Kaffee verkaufen, sind natürlich als Türken verkleidete Armenier!«
    »Tut mir Leid, St-George, das hab ich nicht gewusst.«
    »Ich hätte nicht so barsch sein dürfen«, räumte St-George ein. »Als du von Paris weggingst, war

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