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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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kamen ihm jedoch heute wieder so nah, dass wir seine Kirchenglocken hören konnten. Das liegt am unsinnigen Verlauf des Flusses, der wie die Argumente von Pater Édouard de Gex eine Schleife um sich selbst dreht. Dieses Schiff ist ein chaland , eine lange, schmale, billig gemachte Kiste mit nur einem quadratischen Segel, das immer dann gehisst wird, wenn der Wind zufällig von hinten kommt. Die meiste Zeit wird der Mast allerdings nur als Befestigungsort für die Treidelleinen benutzt, mit denen der chaland von Tieren am Ufer gegen den Strom gezogen wird.
    Mein Kapitän und Beschützer ist Monsieur LeBrun, der in höllischer Angst vor Madame leben muss, denn immer wenn ich mich in die Nähe des Schandecks wage oder irgendetwas auch nur ein bisschen Gefährliches tue, bricht ihm der Schweiß aus, und er hält sich den Kopf, als wäre er in Gefahr abzufallen. Meistens sitze ich auf einem Salzfass am Heck, sehe Frankreich vorbeiziehen und beobachte den Verkehr auf dem Fluss. Ich bin gekleidet wie ein Junge und trage die Haare unter meinem Hut, was ausreicht, um mein Geschlecht vor Männern auf anderen Booten oder am Ufer zu verbergen. Wenn irgendjemand mich begrüßt, lächle ich und sage nichts, und nach wenigen Minuten lassen sie ab und halten mich für einen Dummkopf, vielleicht einen Sohn von M. LeBrun, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Der Mangel an Aktivität kommt mir entgegen, denn fast die ganze Zeit, seit ich auf dem chaland bin, habe ich schon meine Regel und sitze auch jetzt auf einem Haufen Lumpen.
    Es ist offenkundig, dass diese Gegend hier Futter im Überfluss hervorbringt. In ein paar Wochen wird die Gerste reif sein, und man wird mühelos eine Armee hier durchmarschieren lassen können. Falls eine Invasion der Pfalz geplant wird, werden die Armeen aus dem Norden [denn sie sind entlang der holländischen Grenze stationiert] und die Nahrung von hier kommen; deshalb gibt es hier nichts, wonach eine Spionin Ausschau halten könnte, außer vielleicht Schiffsladungen bestimmter militärischer Güter. Die Streitkräfte würden einen großen Teil ihres Versorgungsmaterials mit sich führen, aber es wäre nicht unvernünftig, davon auszugehen, dass gewisse Posten wie Schießpulver und vor allem Blei aus den Arsenalen in der Nähe von Paris flussaufwärts gebracht würden. Eine Tonne Blei in Wagen zu transportieren, erfordert nämlich ein Gespann Ochsen und viele weitere Wagenladungen Futter; dieselbe Fracht in der Bilge eines chaland zu befördern, ist kein Problem. Deshalb schaue ich mir die chalands an, die sich flussaufwärts bewegen, und frage mich, was wohl unten in ihrem Frachtraum lagert. Ihrer äußeren Erscheinung nach zu urteilen, haben sie alle dieselbe Art von Fracht geladen wie der chaland von M. LeBrun, nämlich gesalzenen Fisch, Salz, Wein, Äpfel und andere Waren, die eher aus der Gegend stammen, wo die Seine ins Meer mündet.
    TAGEBUCHEINTRAG 25. AUGUST 1688
    Tag für Tag still dazusitzen hat auch seine Vorteile. Ich versuche, meine Umgebung mit den Augen eines Naturphilosophen zu betrachten. Vor ein paar Tagen beobachtete ich einen anderen chaland , der sich ungefähr eine Viertelmeile vor uns stromaufwärts bewegte. Einer der Bootsführer musste ein Tau am Mast erreichen, das für ihn zu hoch hing. Also packte er ein dickes Fass, das aufrecht auf Deck stand, am Rand, kippte es zu sich her, rollte es dahin, wo er es haben wollte, und stieg auf seinen Deckel. An der Art, wie er mit diesem riesigen Gegenstand umging, und am Geräusch, das es unter seinen Füßen machte, konnte ich erkennen, dass es leer sein musste. An und für sich überhaupt nichts Ungewöhnliches, da leere Fässer häufig von einem Ort zum anderen transportiert werden. Es brachte mich aber auf die Frage, ob es irgendein äußeres Zeichen gab, an dem ich unterscheiden konnte zwischen einem chaland , der wie M. Le-Bruns beladen war, und einem, der in der Bilge ein paar Tonnen Gewehrkugeln, auf Deck dagegen leere Fässer hatte, um die wahre Natur seiner Ladung vor den Blicken von Spionen zu verbergen.
    Selbst aus der Ferne ist es möglich, das Schaukeln eines dieser chalands nach der Seite hin zu beobachten, indem man die Mastspitze im Auge behält – denn aufgrund seiner Länge vergrößert der Mast die kleinen Bewegungen des Schiffsrumpfs und aufgrund seiner Höhe ist er weithin sichtbar.
    Von M. LeBrun lieh ich mir ein Paar Holzschuhe aus und ließ sie beide in dem Leckwasser schwimmen, das sich in der Bilge

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