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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Holborn zogen sich in Hauseingänge zurück und atmeten durch Tücher, wenn diese Wagen vorbeikamen.
    Weiter durch Newgate und die Überreste der römischen Mauer, vorbei am Gefängnis, das still, aber nicht leer war. Auf die viereckige Spitze des Turms der St. Paul’s Cathedral zu, wo müde Glöckner eine riesige Glocke schlugen und so die Jahre der Toten zählten. Der alte Turm stand schief, und das schon so lange, dass es in London keinem mehr auffiel. Unter den derzeitigen Umständen allerdings schien sich seine Neigung verstärkt zu haben, und Daniel bekam plötzlich Angst, dass er gleich auf ihn stürzen würde. Erst vor ein paar Wochen waren Robert Hooke und Sir Robert Moray in den Glockenturm hinaufgestiegen und hatten Experimente mit zweihundert Fuß langen Pendeln durchgeführt. Mittlerweile war die Kathedrale mit einem Wall aus frisch festgestampfter Erde befestigt, und die Gräber türmten sich eine ganze Elle über Bodenhöhe.
    Die alte Fassade der Kirche war von Kohlenrauch halb weggefressen und vor drei oder vier Jahrzehnten mit einem neumodischen, klassizistischen Portal versehen worden. Doch auch die neuen Säulen verfielen bereits wieder und waren verunstaltet, wo man zu Cromwells Zeiten Läden zwischen ihnen errichtet hatte. In jenen Jahren hatte die Kavallerie der Rundköpfe das Mobiliar in der Westhälfte der Kathedrale herausgerissen, zu Feuerholz zerhackt und den leeren Raum dann als riesigen Stall für fast tausend Pferde genutzt, deren Mist sie den frierenden Londonern für vier Pence den Scheffel als Brennstoff verkauften. Unterdessen hatten Drake, Bolstrood und andere in der Osthälfte vor ständig kleiner werdenden Gemeinden dreistündige Predigten gehalten. Nun wollte König Charles das Gebäude angeblich wieder herrichten lassen, doch Daniel sah keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendetwas getan worden war.
    Obwohl es nicht der kürzeste Weg war, ging Daniel an der Südseite der Kirche entlang, weil er einen Blick auf das südliche Querschiff werfen wollte, das vor einigen Jahren eingestürzt war. Gerüchten zufolge wurden die größeren und besseren Steine weggekarrt und für den Anbau eines neues Flügels an John Comstocks Haus an der Piccadilly verwendet. Tatsächlich waren viele Steine fortgeschafft worden, aber natürlich arbeitete dort im Moment niemand außer Totengräbern.
    Weiter nach Cheapside, wo Männer mit Leitern in die oberen Fenster eines mit Brettern vernagelten Hauses einstiegen, um schlaffe, erschöpfte Kinder herauszuholen, die ihre Eltern irgendwie überlebt hatten. In Richtung Fluss die einzige Menschenansammlung, die Daniel bisher gesehen hatte: eine lange Schlange vor dem Haus von Dr. Nathaniel Hodges, einem der wenigen Ärzte, die nicht geflohen waren. Nicht weit dahinter, auf der Cheapside, das Haus von John Wilkins. Wilkins hatte Daniel einen Schlüssel geschickt, was sich als unnötig erwies, da bereits in das Haus eingebrochen worden war. Bodendielen herausgehebelt, Matratzen ausgeweidet, sodass es wegen des ganzen losen Strohs und Holzes auf dem Boden wie in einer Scheune aussah. Bücher reihenweise von den Regalen gefegt, um festzustellen, ob dahinter etwas versteckt war. Daniel ging umher und stellte sie wieder zurück, wobei er ein, zwei neuere zurückbehielt, die Wilkins ihn zu holen gebeten hatte.
    Dann zur Kirche von St. Lawrence Jewry. 11 »Folgt den Abflussrohren, findet die Amphibien«, hatte Wilkins geschrieben. Daniel ging über den Kirchhof, der dicht mit Gräbern besetzt war, aber noch nicht das Stadium erreicht hatte, bei dem über alten Gräbern neue angelegt wurden – Wilkins’ Schäfchen waren größtenteils wohlhabende Seidenhändler, die in ihre Landhäuser geflohen waren. An einer Ecke des Daches lief vom tiefer liegenden Ende der Regenrinne ein rotes Kupferrohr herab und verschwand durch ein Loch in einem Fenster darunter. Daniel betrat die Kirche und verfolgte das Rohr in einen Keller, in dem ungenutztes Gottesgerät lagerte, das auf einen geregelten Ablauf des Kirchenkalenders (z.B. Oster- oder Weihnachtssachen) oder plötzliche Umschwünge der herrschenden Theologie wartete (Angehörige der High Church wie der verstorbene Bischof Laud wollten einen Zaun um den Altar, damit die Gemeindehunde nicht ihr Bein am Tisch des Herrn heben konnten; einfache Menschen von der Low Church wie Drake lehnten das ab; der Reverend Wilkins, eher vom Schlage Drakes, hatte den Zaun hier unten eingelagert). Dieser Raum summte, ja bebte beinahe, als

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