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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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vermisste er erneut Umina. Sie hätte den Konflikt sicher besser gelöst. Er hatte sich damit nur einen neuen Feind geschaffen. Aber was hätte er tun sollen? Seine Nerven lagen blank, und der Gedanke an die Gefahr, in der die Mestizin schwebte, ließ ihn nicht los. Wenn sie überhaupt noch am Leben ist, kam ihm in den Sinn, doch diesen Gedanken verdrängte er lieber schnell.
    Während sie ins Tal hinabritten und Sebastiáns Höhenkrankheit allmählich besser wurde, ging Umina ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte ihm von der unerschöpflichen Vielfalt dieses Landes erzählt, von dem Kontrast zwischen der verbrannten Steppenlandschaft und den schneebedeckten Anden mit ihren wechselnden Klimazonen. Sebastián hatte Spanien bisher stets für ein Land mit unzugänglichen Wegen gehalten, doch der Paso de Despeñaperros, der berüchtigte Bergpass in der Sierra Morena, erschien ihm nun im Vergleich zu den Gefahren der Anden wie ein Kinderspiel. Hier wirkten die Kräfte der Natur in einem für |298| Europäer unvorstellbaren Maße. Alles war gigantischer und wilder. Reißende Flüsse stürzten sich mit unglaublicher Wucht von den Berggipfeln in tiefe, unüberwindbare Schluchten.
    Zum Glück erweckte die Niederung, die sich bald vor ihnen auftat, den Eindruck, als gelangten sie in eine gemäßigtere Zone mit milderem Klima. Sie kamen in kleine Dörfer, die von bescheidenen Äckern, kleinen Lamaherden oder von Gänse-, Enten- oder Wasserhühnerzucht lebten. Die Natur war ihnen nun nicht mehr feindselig gesinnt, dafür aber jetzt die Bevölkerung. Das Handeln mit den Indios in den kleinen
pulperías,
den Schenken mit Lebensmittelverkauf, wo sie Käse, Eier und Dörrfleisch erstanden, gestaltete sich zunehmend schwierig, und kaum einer war bereit, sie für die Nacht aufzunehmen.
    Selbst Qaytu und Gálvez war diese Haltung anfangs unverständlich. Bis sie eines Abends in ein Dorf kamen, das in tiefer Stille dalag. Anfangs hielten sie es für verlassen, doch dann merkten sie, dass seine Bewohner sich versteckt hatten. In mehreren Häusern fanden sie danach Verletzte. Einer von ihnen erzählte schließlich ängstlich, sie seien am Vortag von einer halben Hundertschaft von Spaniern angegriffen worden. Seiner Beschreibung nach handelte es sich um die Truppe von Carvajal und Montilla.
    »Das klingt mir nach einer Strafaktion«, murmelte Gálvez. »Das ist eine von Carvajals gängigen Methoden: Er tötet die Anführer der Orte, die eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die
encomenderos
spielen.«
    »Und warum hat er gerade dieses Dorf angegriffen?«
    »Vermutlich hat man ihm in Lima eine Liste gegeben. Oder er hat sich unterwegs bei den Großgrundbesitzern erkundigt.«
    »Frag sie, ob auch eine Frau dabei war.«
    In fließendem Quechua beschrieb der Kreole den Indios Umina. Doch alle schüttelten den Kopf.
    »Sie kann doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein! Es ist zum Verzweifeln!«, klagte Sebastián.
     
    |299| Sie zogen weiter zu einem einsam gelegenen, schlecht ausgestatteten, doch wegen der ihn umgebenden Mauern leicht zu verteidigenden
tambo
. Dort aßen sie zu Abend und wollten sich gerade schlafen legen, als in der nächtlichen Stille auf einmal die Pferde wieherten und jemand »Halt! Stehen bleiben!« schrie.
    Sebastián eilte hinaus, wo Gálvez’ Männer im Schein des Lagerfeuers einen Mann mit langem wirrem Haar umstellt hatten, das wie von Sonne und Wind gebleichte Putzwolle anmutete. Die verrückt dreinblickenden Augen lagen sehr tief, und die Haut spannte sich pergamenten über seinem ausgemergelten Körper.
    »Ich bin ein
cachicamayo
«, stotterte der Mann, als wollte er damit sein Aussehen entschuldigen.
    »Ein Salpeterarbeiter«, übersetzte Gálvez Sebastián leise. »Das ist ein schmutziger und von allen verachteter Beruf.«
    Der Mann war unterwegs, um den Diebstahl eines Postens Salpeter anzuzeigen, den er den Behörden hatte überbringen wollen, welche das Monopol auf den Verkauf dieses Salzes hatten.
    »Haben Sie unterwegs eine bewaffnete Truppe von ungefähr fünfzig Mann getroffen?«, wollte Sebastián sofort von dem Arbeiter wissen.
    »Ja, aber ich habe ihnen nicht über den Weg getraut und mich versteckt.«
    »Hatten sie eine Frau dabei?«
    »Eine Frau   …?« Der Mann stutzte. »Aber klar doch, jetzt verstehe ich das Ganze!«
    »Was verstehen Sie?«, fragte der Ingenieur hoffnungsvoll und trat auf ihn zu.
    »Ich hatte mich im Schilf eines Bachs versteckt. Und da kamen zwei Männer. Einer davon

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