Quipu
verstohlene Tränen ab und versuchte zu lächeln.
»Klöppelkissen«, flüsterte sie, »das einzige Kissen, auf das ich mich fortan werde betten können.«
|84| Der Detektivtisch
Z wei Stunden später legte Sebastián in seinem Zimmer die Schusterahle beiseite und schnitt den Zwirn mit der Schere ab. Prüfend fuhr er mit dem Finger noch einmal über die Nähte des Beutels aus wasserabstoßendem Wachstuch. Man sah auf den ersten Blick, dass es Pfusch war, aber es würde seinen Zweck erfüllen.
Er wollte die ledergebundene Chronik immer mit sich führen; so würde er in der Verbannung zumindest nachlesen können, womit sich sein Vater in den letzten Monaten beschäftigt hatte, und sich ihm so ein letztes Mal nahe fühlen. Als er sie jedoch in den Beutel stecken wollte, flatterten mehrere Blätter heraus. Er erkannte sofort die winzige, ordentliche Schrift seines Vaters. Ein Brief, den er ihm hinterlassen hatte? Er überflog die Seiten. Fremd anmutende Namen sprangen ihm ins Auge: Manco Cápac, Huáscar, Atahualpa, Túpac Amaru … Er gab auf. Die Geschichte, die Juan de Fonseca hier niedergeschrieben hatte, würde seine volle Aufmerksamkeit fordern, das musste er auf später verschieben. Da fiel ihm ein, dass sein Onkel ein paar Blätter erwähnt hatte, auf denen sein Vater den sonderbaren Sekretär erklärte, der den roten Salon beherrschte. Vorsichtig blätterte Sebastián die ganze Handschrift durch. Und tatsächlich stieß er auf zwei weitere, eng beschriebene Seiten.
Aufgeregt eilte er in den roten Salon, wo unter Monchos Aufsicht zwei Dienstmädchen alle Spuren des grausamen Mordes beseitigt hatten. Gespannt setzte er sich auf den Stuhl vor Juan de Fonsecas Sekretär.
|85| Überschrieben waren die Seiten mit dem geheimnisvollen Wort »Quipu«, unmittelbar darunter stand »Ordnungsprinzip: TEKTONIK-TEXTIL-TEXT«. Sebastián blickte auf. Links, rechts und auch direkt vor ihm erhoben sich die Fächer, auf die sein Vater viele Zettel verteilt hatte. Nun genügte ihm eine Stichprobe, um festzustellen, dass sich die Anmerkungen auf den Kärtchen alle auf diese drei Begriffe bezogen. Mithilfe dieses Systems hatte Juan de Fonseca die Handschrift also zu ordnen versucht. Gewiss hatte sein Onkel Álvaro das gemeint, als er sagte, sein Bruder versuche, zwischen den Zeilen zu lesen, um jenes Quipu wiederherzustellen, das den Schlüssel zu den Geheimnissen der Inkas berge. Und das hatte er wie ein Maler getan, der den Fluchtpunkt zum Aufbau seiner Perspektive suchte, jenen Punkt, in dem die eigentlich parallelen Linien irgendwann zusammenliefen.
Juan de Fonsecas Aufzeichnungen zufolge war also das Regal an der linken Wand dem Begriff TEKTONIK zugeordnet, dem er in Klammern das griechische Ursprungswort
téktōn
beigefügt hatte. In seinen Fächern hatte er all das abgelegt, was mit dem Tektonischen, also der Erdkruste, dem Gelände zu tun hatte: Gebirge, Täler, Flüsse, Quellen und Höhlen; und ebenso das, was mit dem
Archi-tektonischen
zu tun hatte, das heißt, mit dem Bau von Gebäuden, Dörfern, Städten. Der zweite Block der Fächer enthielt unter dem Oberbegriff TEXTIL Karteikärtchen, die sich auf Stoffe, Stricke und Knoten bezogen, insbesondere auf die Quipus. Und im dritten Regal auf der rechten Seite fand sich schließlich unter TEXT das, was sich auf die Schrift bezog.
Den Hintergrund seines Ordnungsprinzips erklärte Juan de Fonseca wie folgt:
Dem Chronisten Diego de Acuña zufolge benutzen die Eingeborenen Perus dasselbe Wort für »Schnur, Strick« wie für ihre Sprache. Sprechen ist für sie also gleichbedeutend mit dem Weben oder Verflechten von Wörtern. Und so, wie sie ihre Stoffe woben, verflochten sie ihre Erinnerungen in Stricken und Knoten, die sie
quipus
nannten.
|86| Seit den Aufständen von Vilcabamba scheint kein Ort der Welt die Eingeborenen mehr zu beschäftigen als jener, der den Namen »Auge des Inkas« trägt. Für das »Auge des Inkas« haben sie eine Quipu
-
Landkarte entworfen, die sie mit einem Knoten gekennzeichnet haben, der entsprechend den vier Himmelsrichtungen des Reiches vier Schlaufen hat und aussieht wie ein Schmetterling mit geöffneten Flügeln. Das Überraschende und für mich Unerklärliche ist, dass ebendieser Knoten sich auf dem Wappen der Fonsecas wiederfindet wie auch auf einem Grab auf unseren Ländereien. Und beide sind mindestens zwei Jahrhunderte alt.
Im Anschluss an diese Ausführungen folgte eine Liste mit Gelehrten, mit denen Juan de Fonseca sich
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