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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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im Austausch zu diesem Thema befunden hatte. Schließlich führte er seine Überlegungen zu den Begriffen TEKTONIK-TEXTIL-TEXT aus.
     
    Die Verwandtschaft zwischen den spanischen Wörtern
tejado
und
tejido
(»Bedachung« und »Gewebe«) und zwischen »Textil« und »Text« ist kein Zufall: Zuallererst mussten sich die Menschen einen Unterschlupf suchen, einfache Höhlen. Dort, wo die Erde diese Möglichkeit nicht bot, sind sie selbst zu
Archi-tekten
, Meistern auf dem Gebiet des Tektonischen, geworden und haben aus Schilf oder Weiden Matten zum Schutz vor Hitze und Kälte geflochten.
    Daher spricht man, wenn man etwas bedecken oder schützen will, auch von Protektion, das sich vom lateinischen
protectum
ableitet. Will man hingegen etwas aufdecken oder enthüllen, so wird dies Detektion genannt, das zurückgeht auf
detectum
. Demzufolge habe ich meinen Sekretär
Detektivtisch
getauft, weil er mir mittels der Fächer enthüllen soll, was die Chronik verbirgt, das, was weit über die oberflächliche Schicht der Wörter hinausgeht.
    Doch um auf die Verwandtschaft von »Textil« und »Text« zurückzukommen: Benutzt man die für den Bau von Unterschlupfen |87| verwendete Technik in verfeinerter Form für andere Zwecke, entsteht eine
Textilie
, ein Gewebe, ein Stoff, der vielen Völkern in Form von Zelten immer noch als Schutz dient. Vom spanischen
tejado,
»Dach«, ist man so zum
tejido
, dem »Gewebe«
,
gekommen, das auch als Teppich für den Boden oder die Wand verwendet wird.
    Die
Textilien
waren bald nicht mehr an einen Ort gebunden und immer mehr Motive und Symbole und zuvor mündlich überlieferte Geschichten wurden darin eingewoben. So war es möglich, diese im Gedächtnis der Menschen, in ihrem geistigen »Teppich«, zu verankern. Auf diese Weise entstand mit den gewebten Stoffen ein eigenes geistiges Netz, mit dem die Außen- und Innenwelt abgebildet werden konnten, bis hin zu den höchsten Ebenen des menschlichen Bewusstseins. Als Beispiel dafür sind die Linien zu sehen, die man während einer Unterhaltung zerstreut aufs Papier kritzelt, die dem tiefsten Inneren zu entspringen scheinen, als seien sie ein archaisches Alphabet, eine in den Tiefen des Universums vergrabene Sprache, ein Netz menschlichen Denkens, das in Abgründen treibt und uralte Materien zu erhaschen sucht.
    Daher spricht man auch vom
Faden
einer Erzählung, der dann zum
Stoff
verarbeitet wird (der Faden Penelopes, der magische Teppich Scheherazades), oder vom
Knoten im Gehirn
, wenn man nicht mehr weiterweiß. Und wenn wir schon unsere Ideen über Netze ordnen müssen, warum dann nicht auch mit Schnüren und Knoten die Sprache abbilden? Ist es nicht das, was wir tun, wenn wir einen Knoten ins Taschentuch machen, um uns an etwas zu erinnern? Oder wenn wir den Rosenkranz beten: Er ist nichts weiter als eine Folge von Knoten in einer Schnur, doch wenn wir wissen, was sie bedeuten, ruft uns jeder einzelne einen Teil der Leidensgeschichte unseres Herrn in Erinnerung.
    Einige Völker legten all dies in grafische Zeichen, mit denen die Laute und Wörter einer Sprache festgehalten werden. Das war der Schritt vom
Textilen
zum
Text,
das
Verweben
einer |88| Folge von Wörtern und Sätzen. Die Inkas hingegen schlugen nicht denselben Weg ein wie andere Kulturen: Sie hielten die Zahl ihrer Untertanen, ihr Land, ihr Straßennetz, ihre Riten und Feste, ihre Orte der Erinnerung mit dem
Textilen
fest. Sie zogen keine Trennlinie zwischen ihren Stoffen und der Erde, die sie ihnen schenkte. Sie wollten sich das Weben, Flechten, Ineinanderschlingen bewahren, sei es für ein aus Schilf geflochtenes Dach über ihren Köpfen, eine Hängebrücke, die die beiden Ufer eines reißenden Flusses verbindet, einen Stoff, der sie vor den Unbilden des Wetters schützt, oder die überlieferten Geschichten ihres Volkes.
    An wenigen Orten dieser Erde hat die Natur sich als so unbezähmbar erwiesen wie in den Anden, haben die Menschen so hart kämpfen müssen, um sie ihnen dienstbar zu machen. Und doch haben die Inkas sie nicht mehr als nötig ihren Wünschen unterworfen   …
     
    Jetzt verstehe ich die Sache mit diesem Quipu auf dem Zettel zwar ein klein bisschen besser, dachte Sebastián, ganz erschlagen von so viel Wissen, aber so werde ich diese Chronik nie lesen können. Ich bin kein so gebildeter Mann wie mein Vater, der zudem Jahre darauf verwandt hat, sie zu studieren. Das hier geht schlichtweg über meinen Horizont   …
    Da vernahm er ein Räuspern hinter sich. Er

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