Rabenherz & Elsternseele
und wandte mich der letzten Aufgabe zu. Es lagen noch zwei Seile auf dem Boden. Eines davon nahm ich, stieg damit neben dem schmerzensstarren von Meutinger die Treppe hinauf, band es ihm fest um den Unterarm, dessen Hand der Kondor oben immer noch festhielt, und schlang es anschließend um einen Pfosten des Treppengeländers. Das Ende gab ich Strix in die Hand. Er nickte, ohne dass ich etwas erklären musste, und müde wie ich war, musste ich ihn dafür trotzdem noch einmal anlächeln.
Meine Zunge fühlte sich schwerfällig an, ich rollte sie zur Probe erst einige Male ein, bevor ich sprach. »Bubo? Jori? Nehmt dem Kondor die Fußfessel ab. Von Meutinger ist gefesselt.«
Oben herrschte kurz Schweigen, dann meldete sich Bubo mit zögerlicher Stimme zu Wort. »Also, ehrlich gesagt, ich … Mann, der hat vielleicht einen Schnabel! Und er sieht nicht gut gelaunt aus. Ich weiß nicht, wie …«
Ich verlor die Geduld. Ich war zu müde für sowas. »Jori! Mach du’s. Und zwar sofort!«, befahl ich.
Wieder sagte zuerst niemand etwas, aber die Geräusche wiesen darauf hin, dass sich etwas bewegte. Es folgte unverständliches Murmeln, dann unverkennbar Joris zickige Stimme: »Schisser! Dann mache ich es eben allein.«
Nach scheinbar unendlich langer Zeit rutschte schließlich von Meutingers Hand durch das Loch nach unten wie ein unbelebtes Ding. Strix zog heftig am Seil, sodass dem Falkner nichts anderes übrig blieb, als sich zu setzen, damit er nicht hinfiel. Ruckzuck band Strix seinen Arm mit der verletzten Hand am Treppenpfosten fest.
»Das war’s! Ihr könnt runterkommen«, rief er.
Ich ließ mich wieder auf dem Bett nieder, um mir den Rest der Show von dort aus anzusehen.
Die Klapptür wurde aufgerissen. In der Öffnung erschien das Gesicht eines großen Mannes. Er hatte die dunkel gebräunte Hautfarbe eines Südamerikaners, eine Glatze und eine Hakennase. Außerdem stieß er einen Schwall spanischer Sätze hervor, die wahrscheinlich jeden Schimpfwortsammler erfreut hätten, so wutverzerrt wie sein Gesicht dabei aussah.
Kurz darauf stand der nackte Kondormann auf der Treppe und packte von Meutinger beim Kragen. Ohne einem von uns auch nur einen Blick zu gönnen, machte der Riese den inzwischen willenlosen und völlig verängstigten Falkner vom Treppengeländer los und zerrte ihn mit sich nach oben. An seiner Stelle kamen Bubo und Jori mit angstvollen Gesichtern die Treppe heruntergestolpert. Ich sah noch, wie Strix eilig die Hemden an sie verteilte, die ich ihm gegeben hatte, dann lehnte ich mich wieder zurück und ließ mich in den Schlaf sinken.
Habichte und Elstern
I
ch kam zu mir, weil ich Omas Stimme hörte. Zuerst dachte ich, ich würde noch träumen. Sie unterhielt sich mit dem Kondormann. Er sprach Spanisch, sie Deutsch, und Bubo spielte den Dolmetscher.
Sie sprachen auch weiter, nachdem ich die Augen geöffnet hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass ich nicht träumte. Wir waren noch immer in von Meutingers Turm. Draußen war es mittlerweile dunkel, über meinem Kopf leuchtete eine funzlige Deckenlampe mit einem Stoffschirm voller Jagdmotive. Neben mir auf der Bettkante saß Strix und beobachtete mich. Als ich ihn ansah, grinste er, streckte die Hand aus und hielt mir eine Erdnuss hin. Ich lächelte und ließ zu, dass er sie mir auf die Lippen legte, von wo sie schnell zwischen meinen Zähnen verschwand.
»Mann, bin ich müde. Wie ist es ausgegangen?«, sagte ich.
»Deine Oma sagt, es kommt von dem doppelten Hin- und Herverwandeln, dass du so müde bist. Sie ist erstaunt, dass du es in so kurzer Zeit zweimal geschafft hast. Hast du alles von deinem Vater, meint sie. Sie kam mit deiner Mutter im Auto hier an, kurz nachdem der Kondor-Typ von Meutinger in den großen Käfig gesperrt hatte. Er sitzt noch drin, sieht großartig aus. Musst du dir angucken. Deine Mutter hat dir übrigens was zum Anziehen mitgebracht, da liegt es.«
Das rief mir ins Gedächtnis, dass Strix mich nackt gesehen hatte. Seltsamerweise ließ mich nun auf einmal die Erinnerung daran erröten, obwohl es mir währenddessen gar nichts ausgemacht hatte. Ich musste wirklich ziemlich fertig gewesen sein.
Strix grinste breiter, sagte aber zu seinem Glück nichts, sondern gab mir eine weitere Erdnuss. Ich nahm sie und rappelte mich in eine sitzende Position auf. Er drückte mir wortlos die restlichen Nüsse in die Hand.
»Ganz schön nett von dir«, murmelte ich und sah auf meine Hand mit den Nüssen hinunter statt in seine
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