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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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Vögel an. Völlig verstört flogen sie auf, stießen dabei sogar aneinander und zogen in Panik ab. Mein Herz schlug noch zu heftig, und ich war zu sehr außer Atem, um Genugtuung zu empfinden. Mit zitternden Händen wischte ich mir das Wasser aus dem Gesicht, während ich bis zur Brust im See stand. Sobald der komplette Pia-Verstand zurückgekehrt war, wurde mir zum einen bewusst, dass ich nackt war, und zum anderen, dass es für Menschen im Oktober Schlaueres gab, als viel Zeit in eisigem Wasser zu verbringen.
    Ausnahmsweise hätte ich mit Freude aufs Fliegen verzichtet. Mir tat alles weh, ich war erschöpft und hatte einige blutige Schrammen an den Armen und an meinem Allerwertesten, die ich später noch genauer untersuchen musste. Leider sah ich keine Möglichkeit, den Heimweg nackt, nass und frierend als Mensch zu schaffen.
    Also blickte ich mich rasch nach frühmorgendlichen Joggern und Hundespaziergängern um, watete dann ans Ufer und suchte zwischen einigen Bäumen Deckung. Obwohl meine Zähne klapperten und die Lage peinlich war, schlang ich die Arme um mich selbst und blieb eine Weile einfach nur stehen.
    Das vergessliche Wassergeflügel kehrte bereits wieder zurück. Nach und nach ließen die Vögel sich auf dem See nieder. In meinem Kopf herrschte zu viel Tumult, als dass ich mich hätte konzentrieren können. Was für eine grauenvolle Sache war da in diesem Garten losgewesen? Wie eine Falle hatte er mich erst angelockt und dann festgehalten. Und was war mit Leander passiert? Mir wurde elend bei dem Gedanken an ihn. Ich hatte ihn im Stich gelassen.
    Eine der Schrammen an meinem Arm blutete ganz ordentlich. Stammte sie von einem Streifschuss oder von meinen Zusammenstößen mit den Bäumen?
    Vergeblich versuchte ich, ans Elsterwerden zu denken. Ich ging in die Hocke und kauerte mich zusammen, um mich ein wenig zu wärmen. Würde ich das Haus von dem Verrückten als Mensch wiederfinden? Ich musste herausbekommen, was dort vor sich ging. Dummerweise war das Einzige, woran ich mich erinnern konnte, wie das Haus von oben aussah. Den Garten würde ich auf jeden Fall wiedererkennen, aber den konnte man von der Straße aus bestimmt nicht sehen.
    Nun hatte mich auch noch eine Mücke gestochen. Elster werden, Pia! Ich seufzte. Der Heimweg würde auch fliegenderweise lang sein.
    Wahrscheinlich wäre ich unter den Parkbäumen erfroren, wenn mich nicht ein Kläffen aus meiner Verwirrung gerissen hätte. In der Ferne kam auf dem Kiesweg eine Frau mit einem Pudel anspaziert, der kläffend Spatzen aufscheuchte. Den beiden wollte ich auf keinen Fall begegnen. Fliegen ist mehr als alles Gold wert, Pia, dachte ich. Flügel sind etwas Wunderbares!
    Kurz darauf war ich auf dem Weg nach Hause, ins Warme.
    Ich flog nicht auf geradem Weg in mein Zimmer, sondern zuerst zum Nest in der Kastanie. Meine Hoffnung zerplatzte: Leander war nicht da. Ich hatte solche Gewissensbisse, dass ich trotz aller Erschöpfung daran dachte, wieder loszufliegen, um ihn zu suchen. Zu dem unheimlichen Garten zurückzukehren, traute ich mir allerdings nicht zu. Und wenn etwas aus der Luft noch schwieriger zu finden war als ein Fahrrad, dann war das eine Elster. Traurig überwand ich die letzte Strecke bis zu meinem Fensterbrett.
    Kaum hatte ich die erste Klaue daraufgesetzt, stürzte ich beinah rückwärts wieder ab. In meinem Zimmer sprang Mama vom Stuhl auf, und gleichzeitig schwang sich mir von meinem Schreibtisch aus Leander entgegen. Ein paar seiner Schwanzfedern waren zerfetzt, sonst war er heil. Er wirkte lange nicht so mitgenommen wie ich. Mama machte allerdings ein Gesicht, als wäre sie selbst gerade fast im See ertrunken. Sofort musste ich wieder an Oma denken. Oder ging es um mich? Egal. Erst mal war ich erleichtert, dass Leander nichts zugestoßen war. Ich führte einen kleinen und lautstarken Elsternfreudentanz auf, und er tat das Gleiche.
    Mama hatte dafür kein Verständnis. Mit einer Entschlossenheit, die ich ihr gar nicht zugetraut hatte, packte sie mich mit beiden Händen, scheuchte Leander aus dem Zimmer und knallte mit dem Ellbogen das Fenster hinter ihm zu.
    Ich war schon einmal gefangen und festgehalten worden und hatte es gehasst. Obwohl es dieses Mal meine Mutter war, die mich festhielt und kein böser Falkner, geriet mein Elsternverstand außer sich. Angefasst zu werden war unangenehm genug. Festhalten war pfui, schäckäckäck. Ich hackte nach ihrer Hand, und sie ließ mich mit einem Aufschrei los.
    »Bist du verrückt

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