Rabenmond - Der magische Bund
räusperte sich. »Bring mir bei... so zu...«
»... zu malen?«
Er nickte. »Zeig mir, wie ein Künstler die Welt sieht. Wie ein Mensch die Welt sieht.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Es muss ein Geheimnis bleiben«, fügte er mit einem besorgten Lächeln hinzu. Wieder schluckte sie, und diesmal klang es, als hätte sie einen Brunnen im Hals. Ihre Zunge fühlte sich schwer an. »Dann müsst Ihr mir zeigen, wie ein Drache die Welt sieht.«
Er hätte sie sofort erschlagen müssen für diese maßlose Forderung. Er hätte sich hier und jetzt in ein Ungetüm verwandeln und ihr den Kopf abreißen müssen.
Stattdessen lächelte er und es sah fast aus wie das Lächeln eines gewöhnlichen Jungen. Sein Mund war geformt wie ein Halbmond.
»In Ordnung«, flüsterte er, als könnte sie in der einsamen Halle jemand belauschen.
Pflichten
J agu lachte laut. Es war das erste Mal, dass Mion ihn so lachen hörte. In seinen Augen blitzte eine trockene Freude - Schadenfreude nicht unähnlich. »Das hat er wirklich so gesagt? Zeig mir, wie ein Mensch die Welt sieht?«
Mion nickte unsicher.
»Die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe! Als würde sich ein Drache darum scheren, was ein Mensch fühlt und denkt und wahrnimmt. Der Prinz will dich nur wiedersehen. O Mion, wir haben es geschafft!« Er kam auf sie zu und nahm ihr Gesicht in die Hände. Als er ihr in die Augen sah, verblasste sein Lächeln. »Und du hast gesagt, im Gegenzug möchtest du wissen, wie ein Drache die Welt betrachtet. Das war die perfekte Erwiderung. Praktisch hat er schon eingewilligt, dir das Geheimnis der Gestaltenwandlung zu verraten, damit er...«
Mion spürte, wie ihr eigenes Grinsen nachließ. Ihr war, als würden Jagus Hände an ihren Wangen erzittern.
»Damit er was?« Die Frage war naiv und kindisch. Natürlich wussten sie beide, um was es ging. Aber Mion wollte es nicht so unausgesprochen hinnehmen - sie wollte, dass Jagu ehrlich war, zu ihr und zu sich selbst, und es sagte: Wie viel würde sie für ihre Zukunft geben müssen?
»Damit er deine Gegenwart genießen darf«, antwortete er und gewann seine Fröhlichkeit zurück. »Deine Stimme hören und sich mit dir unterhalten. Und dein hübsches Gesicht so lange anstarren, wie er will!« Er ließ sie los und setzte sich auf die Tischkante. »Du brauchst unbedingt eine eigene Garderobe.«
»Ich könnte gleich zu Atlas fahren und sie bei ihm in Auftrag geben. Ich wollte ihn sowieso besuchen«, erinnerte Mion sich. Seit der Sommersonnenwende hatten sie sich nicht mehr gesehen. Ein neuer Auftrag würde Atlas versöhnen - noch dazu, wenn er erfuhr, dass sie seine Kleider im Palast tragen würde, wo der Prinz sie sehen konnte.
Jagu nickte. »Am besten, er fängt gleich an. Geld spielt keine Rolle.«
Mion trat vor eines der Fenster, die das Atelier mit warmem Abendrot füllten. Wieder hörte sie die Stimme des Prinzen, monoton und dabei doch irgendwie zärtlich, mit einer hoffnungsvollen Helligkeit unter all dem Ernst. Sie lächelte in sich hinein. Wie leicht hatte sie sein Interesse geweckt.
»Mal angenommen, unser Plan geht auf, der Prinz gibt mir alles, worum ich ihn bitte, und ich werde ein Drache - und dann verschwinde ich für immer aus deinem Leben. Was tust du dann? Wenn ich erst so mächtig bin, kannst du mich schließlich nicht zwingen, dich nachzuholen.«
Jagu lächelte, als hätte er genau das von ihr hören wollen. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass du deinen armen Meister nicht vergisst.«
»Wie kannst du mir vertrauen«, murmelte Mion, noch immer halb lächelnd. »Vielleicht nutze ich dich ja genauso aus wie den Prinzen.«
»Vielleicht«, erwiderte Jagu.
Die Stille machte Mion mit einem Mal unruhig. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es gar nicht darum ging, wie sehr sie ihm trauen konnte, sondern umgekehrt. Sie hatte die Macht. Von ihr hing alles ab. Doch als sie das begriff, fühlte sie sich nicht stärker, sondern im Gegenteil noch unsicherer.
Mit einem Seufzen erhob sie sich. »Ich mache mich auf den Weg zu Atlas.«
Jagu stopfte seine Pfeife, streckte sich auf dem Sessel aus und nickte. »Lass dir ruhig ein paar Kleider mehr machen. Mindestens fünf bei Atlas, und dann suchen wir uns noch andere Schneider.«
Plötzlich hörten sie ein Kichern. Faunia taumelte durch die Tür. Ihr seidener Hausmantel klebte an den nassen Schultern. Auch ihre Haare waren feucht. Einen Augenblick sah sie sich verwirrt um, dann torkelte sie durch das Atelier und
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