Rabenmond - Der magische Bund
nein, das war ausgeschlossen. Er vertraute ihr.
Aber wenn die Drachen wüssten, was er ihr alles erzählt hatte. Er hatte ihr alles erzählt.
»Das heißt, von heute an darf in Anwesenheit von Menschen nichts mehr besprochen werden, was der Geheimhaltung unterliegt! Gebt darauf acht, Brüder und Schwestern. Das betrifft auch die Dienerschaft. Wir dürfen uns keine Nachlässigkeit erlauben. Es mag abwegig klingen, dass ungebildete Menschen ihre Herren auf so tückische Art betrügen, doch es sind schwierige Zeiten. Es geht um die Sicherheit von Wynter.«
Die Drachen klopften in missmutiger Zustimmung auf die Tische.
»Sollte der Verdacht entstehen, dass ein Dienstbote untreu ist, darf nicht gezögert werden. Was Mitglieder der Gilden betrifft, so wollen wir milder sein: Bei Verdacht auf Verschwörung erfolgt die Festnahme.«
Lyrian hielt die Fäuste geballt. Verdacht allein sollte ab jetzt den Tod von Dienern rechtfertigen? Bis jetzt hatte er noch nie gehört, dass ein Palastangestellter für Albathuris oder die Geschwisterstaaten gearbeitet hätte, und es kam ihm reichlich abwegig vor. Die Dienerschaft wusste kaum etwas über die Welt jenseits der Palastmauern.
»Außerdem sollten wir ein Straßenfest für die Bürger veranstalten«, fuhr die Kaiserin fort. »Schlechte Nachrichten von der Front finden immer einen Weg ins Volk. Um die allgemeine Stimmung aufrechtzuerhalten, werden Wein, Musik und Tänze geboten, sobald der Regen aufhört.« Einen Moment blickte die Kaiserin forschend durch die Reihen, ob jemand Zweifel vorzubringen hatte. Schließlich nickte sie. »Gut. Dann ist die Versammlung hiermit beendet.«
Lyrian war so unruhig, dass er sich gleich nach der Beratung in die Schwalbe verwandelte und in den Regen hinausflog, bevor seine Eltern ihn mit neuen Verpflichtungen zurückhalten konnten.
Der Wind war stark und warf ihn in der Luft herum wie ein Herbstblatt. Bald war sein Gefieder durchnässt. Aber er genoss die Wildheit, die keine Rücksicht auf ihn nahm... die mit ihm spielte.
Er hatte Faunia gebeten, im Palast zu bleiben, aber sie hatte abgelehnt. Dass ihm etwas verwehrt wurde, war eine neue Erfahrung für Lyrian; aber sie hatte recht, es war unmöglich, dass er sie heimlich im Palast wohnen ließ. Früher oder später würde jemand von ihr erfahren, er konnte ihr Leben nicht seinetwegen aufs Spiel setzen.
Außerdem hatte sie gesagt, dass sie ihren Meister nicht verlassen konnte. Anscheinend hatte er niemanden außer ihr; er war ein guter Mann, hatte sie adoptiert, und ihm lag nichts mehr am Herzen als ihr Wohlergehen. Lyrian konnte das gut nachvollziehen. Bei keinem Menschen zuvor hatte er seine Pflicht als Drache so intensiv empfunden wie bei ihr. Die Ironie war nur, dass er selbst die größte Gefahr für sie darstellte. Unmöglich konnte er sie weiterhin bitten, ihn heimlich zu besuchen, nachdem die Gilden ins Visier der Drachen geraten waren. Früher oder später würde jemand auf sie aufmerksam werden, und wenn die Kaiserin erst erfuhr, wie viel Lyrian ihr anvertraut hatte... Er hätte sich selbst ohrfeigen können dafür, so offen gewesen zu sein. Wissen war für einen Menschen immer gefährlich.
Er flog tiefer und der Wind stieß ihn unbarmherzig durch die Zweige. Er verwandelte sich in den Fuchs und rannte durch das tropfende Unterholz. Überall hatten sich Pfützen gebildet und sterbende Pflanzen hingen in Schlammgruben. Es war kaum vorstellbar, dass vor wenigen Tagen die Luft vor Hitze geflimmert hatte.
Lyrian lief durch das Dickicht, bis er die Pagode erreichte. Wie trostlos es hier nun aussah. Wie ein Friedhof glücklicher Erinnerungen.
Langsam strich er den Hang hinunter und wurde zum Jungen. Der Regen fiel in dicken Tränen durch das Blätterdach und Lyrian streckte ihnen das Gesicht entgegen. Er stellte sich vor, die Tropfen auf seiner Haut wären Faunias Finger, kühl und weich und flüchtig. Als er die Augen wieder öffnete, blieb er stehen: In der Pagode war jemand. Für einen flirrenden Moment glaubte er, es sei sie - aber das war natürlich unmöglich. Er kam näher und erkannte die Gestalt.
»Tibb!« Er musste rufen, damit sie ihn hörte. Erschrocken fuhr sie herum und starrte ihn an. Sie war bis auf die Knochen durchnässt. Ihre Augen wirkten verquollen.
»Geht es dir gut?«
Sie blickte zu Boden und nickte knapp. »Habt Ihr ein Treffen? Dann gehe ich jetzt.«
»Aber nein.« Er stellte sich ihr in den Weg. »Ich treffe niemanden. Was machst du denn ganz alleine
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