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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ins Gedächtnis rief, umso sicherer war er, dass sie ihn mit einem zarten Lächeln begrüßt hatte, als er aus dem Tod erwacht war. Sie hatte einen Grund dafür gehabt, ihn zu töten und ihm das Leben zu lassen. Einen Grund, der ihm verschleiert blieb, trotz seines überlegenen Verstandes - denn es waren bestimmt nicht willkürliche Gefühlsregungen gewesen, die sie zu ihrer Tat veranlasst hatten. Nein, sie, dieses namenlose Menschenmädchen, hatte etwas gewusst, das er als Drache noch immer nicht begriff. Dass sie nun tot war und ihr Geheimnis für immer verloren, machte sie nur noch mystischer.
    Es schien kälter zu werden, ob das nun an der schwindenden Sonne lag oder weil er schon so lange fror. Wenn er Handschuhe mitgenommen hätte... oder ein zweites Paar Stiefel, warme, trockene Stiefel! Doch er verbiss sich jegliches Gejammer und versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren.
    Plötzlich stolperte er über einen spitzen Fels im Boden und fiel auf die Hände.
    »Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte Baltibb. Er schüttelte den Kopf und wischte den Schnee vom Boden. Pflasterstein kam zum Vorschein. Moos wucherte in den Ritzen, aber es war zweifellos Straßenpflaster, von Menschen gelegt.
    »Hier ist eine Straße. Oder hier war eine.« Lyrian erhob sich und schob mit dem Fuß noch mehr Schnee weg. Tatsächlich war da ein alter Weg.
    »Der ganze Kontinent ist von Ruinen bedeckt«, erklärte er, als sie ihren Weg fortsetzten. »Sie waren da, bevor Wälder und neue Städte darübergewachsen sind.«
    »Wer hat sie gebaut?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das weiß heute niemand mehr. Es ist lange her, deshalb sind es ja jetzt Ruinen.«
    Sie waren so auf ihr Vorankommen konzentriert, dass sie gar nicht merkten, wie der Wald sich lichtete. Plötzlich traten sie in die silbrige Abenddämmerung. Dort, wo sich das Dach der Bäume öffnete, erhoben sich mächtige Gebilde aus Stein, in ihrem eigenen Geröll versunken wie schläfrige Riesen.
    Lyrian und Baltibb blieben stehen. Es war ein uraltes Gebäude.
     
    »Was das wohl gewesen sein mag?«
    »Ich weiß nicht«, murmelte Baltibb. Es war kaum zu überhören, dass das alte Gemäuer sie nicht halb so sehr anzog wie Lyrian. Scharf beäugte sie die große Ruine, als müsste sie einen Gegner abschätzen, der sich gleich auf sie stürzen konnte.
    »Es wird bald dunkel«, bemerkte er mit einem Blick in den Himmel und kletterte über Gesteinsbrocken, um ins Innere zu gelangen.
    »Wartet«, sagte Baltibb, als er zwischen Schutt und Schnee eine schiefe Spiraltreppe fand. Sie öffnete ihren Reisesack, um eine Fackel herauszuziehen. Widerwillen regte sich in Lyrian, da er nichts von zu Hause annehmen wollte, aber insgeheim war er froh über das Licht. Baltibb entzündete die Fackel und gab sie ihm, damit er mit dem Licht vorgehen konnte.
    Ihm wäre lieber gewesen, es ginge hoch anstatt hinunter. Aber Hauptsache, sie hatten einen trockenen Platz zum Schlafen. Sein Magen knurrte. Vage hoffte er, dass Baltibb auch Proviant in ihrem Reisesack hatte - nur für heute, morgen konnten sie Menschen aufsuchen und sie um Essen bitten …
    Die Treppe mündete in Finsternis. Er hielt die Fackel empor, doch keine Decke wurde sichtbar. Stattdessen zeichnete der Feuerschein die Umrisse mächtiger Marmorsäulen nach. Wurzeln, dick wie Baumstämme, brachen durch steinerne Bodenfliesen und füllten die Dunkelheit mit unheimlichem Geäst. In ihren Klauen lagerten Gegenstände... geheimnisvolle Schemen tanzten im Fackellicht. Lyrian drehte sich im Kreis. Sie waren in einer Halle.
    »Mir gefällt das nicht«, sagte Baltibb. Fast hätte Lyrian über ihr Misstrauen gelächelt, wäre ihm selbst nicht auch mulmig zumute gewesen. Er streckte die Fackel aus und ging weiter. Truhen traten aus der Dunkelheit hervor... zerbrochene Gefäße... Statuen... er hob ein Trümmerstück vom Boden auf: Es war die Hälfte eines menschlichen Gesichts. Feuchtigkeit und Moos hatten dem edlen Marmor seine Blässe geraubt, doch die Gesichtszüge waren noch immer erkennbar. Ein leeres Auge blickte ihn an, kleine, knospenförmige Lippen, die Nase war schon verloren gegangen. Lyrian betrachtete seinen Fund lange. Was für eine Vergangenheit es wohl gewesen sein mochte, die solche Kunstwerke hervorgebracht hatte? Nach einem Augenblick ging er weiter, das kostbare Relikt fest in die Hand geschlossen.
    Ein merkwürdiger, länglicher Schrank mit weißen und schwarzen Zähnen stand inmitten der Wurzeln. Lyrian trat näher und betrachtete das

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