Rabenmond - Der magische Bund
er sich zurück und sank in den Schnee.
»Geht es Euch gut?«, fragte sie verzagt. Er nickte und drehte sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken, damit sie sehen konnte, dass er lächelte. Als er die Augen öffnete, war über ihm nichts als unendlicher Himmel. Wie schön die Dinge waren, wenn sie niemandem gehörten.
Wynter war ein schummriger Fleck im unberührten Weiß des Landes, ein Rauch atmendes, bedrohliches Dickicht aus Häusern, Mauern und Türmen. Alles wirkte klein und unbedeutend, was aus der Nähe doch so erstickend war. Wenn er daran dachte, dass der Palast fünfzehn Jahre lang seine ganze Welt bedeutet hatte …
»Jetzt sind wir also weg«, murmelte Baltibb.
Das erste Mal musste er daran denken, dass auch sie ihre Heimat aufgegeben hatte. Und zwar aus einem viel geringeren Grund als er... Etwas besorgt stützte er die Arme auf die Knie. Höchstwahrscheinlich hatte sie aus einem menschlichen Gefühlsimpuls heraus beschlossen, ihn zu begleiten. Er als Drache hätte das eigentlich erkennen und verhindern müssen - aber schließlich war er ja auch froh, dass sie bei ihm war. Dafür musste er nun die Verantwortung für sie tragen. In der Wildnis, wo die Gesetze der Drachen gewiss öfter gebrochen wurden und die Menschen ihren Emotionen freien Lauf ließen, konnte alles passieren.
»Weißt du, was ich vorhatte?« Er suchte nach der Landkarte, die er unter dem Wams trug. Baltibb sah ihn überrascht an; offenbar hatte sie nicht erwartetet, dass es irgendwelche Pläne gab.
Lyrian entfaltete das Papier. »Hier sind wir«, sagte er und wies auf die Tuschezeichnung eines löwenköpfigen Drachen im Norden, der den Schriftzug WYNTER bewachte. Dann ließ er den Finger hinabgleiten, über rote Grenzmarkierungen, die Mitternachtsgebirge und weite Wälder bis zum Meer. Über einem unförmigen Landstrich, der sich wie ein Haken ausstreckte, hing ein Wappen mit dem Namen WHALENTIDA.
»Das ist Whalentida, der letzte bewohnte Ort vor dem Meer. Ein Königreich, beherrscht von Menschen. Täglich laufen von hier Schiffe in die unbekannte Welt jenseits der Meere aus. Nur die Bewohner Whalentidas wissen, wohin ihre Schiffe fahren, und wenn sie wiederkommen, sind sie beladen mit kostbaren Gütern, Seide, Silber, Gold und wilden Tieren, die hier noch niemand gesehen hat. Da, wo Whalentidas Schiffe hinfahren, da will ich hin.«
Baltibb kniff die Lippen zusammen. »Ihr wollt den Kontinent verlassen?«
»Der Kontinent! Das Wort ist größer als das, was es beschreibt.« Er faltete die Karte wieder zusammen und steckte sie ein. »Es gibt nur Wynter und barbarische Menschenreiche, dazwischen Wildnis und Eiswüsten, die jeder für sich beansprucht. Auf unserem Kontinent gibt es keine Freiheit.«
Nachdenklich betrachtete sie das Land. »Woher wisst Ihr, dass es sie jenseits der Meere gibt?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich muss hin, um es herauszufinden. Wenn es am anderen Ende der Welt keine Freiheit gibt, dann... dann ist Freiheit eben ein Traum. Nur ein Traum.«
Schweigend saßen sie nebeneinander und betrachteten ihre Heimat im sanften Schneefall, eine blaue, schlaftrunkene Welt. Irgendwann stand Lyrian auf und verschränkte fröstelnd die Arme unter seinem Umhang. »Komm. Gehen wir.«
Die Wälder waren dicht und dunkel. Mächtige Tannen breiteten ihre Fächerzweige über sie wie schützende Hände. Meilenweit herrschte Stille. Nur das Knacken eines gefrorenen Asts, der unter Lyrians Fuß brach, oder ein verzagtes Wimmern von Mond hallte durch die schlummernde Wildnis. Einmal erspähten sie einen Hirsch im wässrigen Blaugrün, doch er setzte mit lautlosen Sprüngen davon.
»Sind wir denn auf dem richtigen Weg nach...«
»Nach Whalentida? Ja, immer nach Südosten.« Lyrian zog die Nase hoch und lächelte. »In Whalentida ist es wärmer als hier, das ist gut. Sie haben nur drei Monate Winter statt fünf, und manchmal schneit es im Winter gar nicht, stell dir vor.«
Plötzlich und ganz unvermittelt musste Lyrian an das Mädchen denken. Er hatte sie so oft in seiner Vorstellung heraufbeschworen, dass sie leuchtend und undeutlich geworden war wie ein Traumbild, das man nur noch spüren, nicht sehen kann. Ihr Gesicht, als sie sich über ihn beugte, schien gar nicht menschlich. Nein, sie war eine Lichtgestalt, die Verkörperung von etwas viel Größerem, das Furcht und Bewunderung verlangte - die Verkörperung von Todesmut und Weisheit, Güte und Gewalt. Wer war sie nur gewesen? Je öfter Lyrian sich ihre Begegnung
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